Kapitalismus auf kubanische Art

Havanna. Fast jeder Kubaner erinnert sich noch an die Rede, mit der Raúl Castro vor genau zwei Jahren seine Landsleute aufschreckte. "Kuba ist das einzige Land auf der Welt, in dem man leben kann, ohne zu arbeiten", sagte der Staatschef am 1. August 2010 ungewohnt selbstkritisch vor der Nationalversammlung. "Davon müssen wir uns verabschieden

Havanna. Fast jeder Kubaner erinnert sich noch an die Rede, mit der Raúl Castro vor genau zwei Jahren seine Landsleute aufschreckte. "Kuba ist das einzige Land auf der Welt, in dem man leben kann, ohne zu arbeiten", sagte der Staatschef am 1. August 2010 ungewohnt selbstkritisch vor der Nationalversammlung. "Davon müssen wir uns verabschieden." Mit diesen Worten kündigte Castro einen alten Pakt auf. "Wir tun so, als ob wir arbeiten, weil ihr so tut, als ob ihr uns bezahlt", hieß die stillschweigende Übereinkunft, die Staat und Arbeitnehmer über Jahrzehnte verband. 95 Prozent der 5,1 Millionen Beschäftigten arbeiteten in Staatsbetrieben, für einen Monatslohn von 15 Euro.In den folgenden Monaten begann die kommunistische Regierung, homöopathische Dosen von Marktwirtschaft in den Staatskapitalismus zu injizieren. Hunderttausende Staatsbedienstete wurden entlassen und versuchen sich jetzt als Selbstständige. Bislang beantragten 380 000 Kubaner eine Lizenz als "Cuentapropista", eine Art Ich-AG. Die Veränderungen sind im Straßenbild der Hauptstadt Havanna allgegenwärtig: Die Menschen verkaufen aus den Küchen ihrer Häuser heraus Pizza, haben in ihren Wohnzimmern ambulante Nagelstudios eingerichtet. Andere arbeiten als Frisöre oder fahren Taxi.

Die Kubaner können jetzt Handys frei erwerben, ihre Häuser und Autos verkaufen oder Gemüse auf eigene Rechnung anbauen und direkt an den Tourismussektor verkaufen. Auch Strukturreformen nehmen Gestalt an. Der Staat bietet ausländischen Geldgebern die Möglichkeit, in die marode Infrastruktur, die Pharma-Industrie, den Bergbau und den Tourismus zu investieren. Staatliche Grundstücke können nun für 99 Jahre gepachtet werden, zuvor lag die Grenze bei 75 Jahren. Zudem sind Sonderwirtschaftszonen geplant, in denen ausländische Firmen für den kubanischen Markt wie für den Export produzieren dürfen.

Die Reformen haben viel Bewegung in das verkrustete System gebracht, doch Beobachter kritisieren sie als halbherzig. Zwar seien staatliche Fesseln gelockert, zugleich aber neue angebracht worden, sagt etwa der oppositionelle Ökonom Oscar Espinosa. Den 200 000 Bauern habe man insgesamt 1,3 Millionen Hektar Land zur Verfügung gestellt, doch der Kauf von Dünger, Vieh oder Maschinen sei streng geregelt oder schlicht unmöglich. Ergebnis: 60 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche liegen brach.

Tatsächlich wird ein maßgeblicher Teil der kubanischen Wirtschaft noch immer zentralistisch-planwirtschaftlich geführt. So ist der Autoverkauf auf Gebrauchte beschränkt, für Neuwagen bedarf es einer staatlichen Genehmigung. Das System als Ganzes ist nur durch Lebensmittel-Importe, großzügige Öllieferungen aus Venezuela und Milliarden-Kredite aus China überlebensfähig. Zudem steigen die Preise, aber nicht die Löhne, wie Präsident Castro am Wochenende zugab. Die Inflation betrug im vergangenen Jahr 20 Prozent.

Den Kommunismus zu erhalten, indem man ihn für den Kapitalismus öffnet, ist wohl das gewagteste Reformprojekt seit der Revolution vor mehr als einem halben Jahrhundert. Dabei ist jedoch augenfällig, dass die Umbaupläne nicht aus der Einsicht in ein untaugliches System geboren wurden, sondern aus dem Überlebenswillen der kubanischen Führung. Das zeigt sich auch in der offiziellen Sprachregelung: Die Veränderungen sind demnach keine "Reformen", sondern lediglich "Aktualisierungen des Modells".

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