Der Präsident in spe und jede Menge Fragen

Berlin · Am Tag nach der Entscheidung taten alle Beteiligten, als wäre nichts Wichtiges geschehen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier , nun auch Bundespräsident in spe, absolvierte seinen extrem heiklen Besuch in der Türkei. Kanzlerin Angela Merkel (CDU ) referierte beim Arbeitgebertag in Berlin über "kompaktere Zuwanderungsregelungen" und SPD-Chef Sigmar Gabriel mahnte ebenda, die "soziale Balance" zu wahren. Alles wie immer?

Nein. Die Bundesversammlung im Februar wirft ihre Schatten voraus. Heute wollen die Parteichefs der großen Koalition, Merkel, Gabriel und Horst Seehofer (CSU ), ihren Kandidaten für die Nachfolge von Joachim Gauck offiziell präsentieren. Um 12 Uhr. Vorher treffen Merkel und der Außenminister erstmals nach dessen Kür bei der Kabinettsitzung im Kanzleramt zusammen. Beide schätzen und respektieren sich. Dennoch gilt es, frühzeitig Pflöcke für die künftige Zusammenarbeit einzuschlagen. Denn dass Steinmeier in der Bundesversammlung gewählt wird, daran besteht angesichts der Mehrheitsverhältnisse kein Zweifel.

Bislang ist es so, dass Merkel regelmäßig ins Schloss Bellevue fährt zum vertraulichen Meinungsaustausch mit dem Bundespräsidenten. Gauck hat ein offenes Ohr, aber keinen tagespolitischen Hintergrund. Bei Steinmeier wird das anders sein - er läuft seit Jahrzehnten im Hamsterrad Politik. Er kennt sich aus, weiß um die Mechanismen, schließlich war er immer auch Strippenzieher. Wird er also als Präsident versuchen, politisch stärker mitzumischen? Womöglich zulasten der Kanzlerin? Das muss zügig geklärt werden.

Merkel und Steinmeier kennen sich lange. Schon in ihrem ersten Kabinett war er Außenminister und Vizekanzler, trat dann 2009 als SPD-Kanzlerkandidat gegen sie an und verlor dramatisch. 2013 kehrte Steinmeier als Außenminister an Merkels Kabinettstisch zurück. Außenpolitisch liegen beide klar auf einer Linie. Auch wenn es zwischenzeitlich unterschiedliche Akzente gab, etwa bei der Bewertung des Brexit: In den großen Fragen - Stichwort Ukraine-Krise - agierten sie als gut funktionierendes Tandem. Merkel und Steinmeier sind Pragmatiker. Das war förderlich für ihr Verhältnis. "Beide werden weiter gut zusammenarbeiten", ist man sich im Kanzleramt sicher.

Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel wird das Verhältnis zu seinem Parteifreund neu justieren müssen, wenn Steinmeier Staatsoberhaupt ist. Und er hat noch ein paar Dinge mehr zu klären: zum Beispiel, wer neuer Außenminister wird. Die besten Karten hat dem Vernehmen nach EU-Parlamentspräsident Martin Schulz , der im Januar 2017 sein Amt aufgeben muss. Dass die Genossen wieder einen aus ihren Reihen ins Auswärtige Amt schicken werden, diesen Pflock schlug Gabriel bereits ein: "Jedenfalls steht das so im Koalitionsvertrag, und den werden wir deshalb nicht ändern." Basta.

Darüber hinaus gilt es, dem Eindruck entgegenzutreten, Steinmeiers Wahl in der Bundesversammlung sei ein Fingerzeig für ein erneutes schwarz-rotes Bündnis, das keiner der Akteure will. "Wir haben in der großen Koalition viel erreicht und werden auch im letzten Jahr dieser Wahlperiode gut zusammenarbeiten. Trotzdem sollte sie kein Dauerzustand sein", wehrte SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann gestern ab. Rot-Rot-Grün soll gegebenenfalls eine Option bleiben. Und zwar unabhängig von der Wahl Steinmeiers zum Bundespräsidenten.

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