Wie aus Ökostrom Ärger wird

Berlin. Kleine Aufstände à la Stuttgart 21 gibt es Dutzende in Deutschland. Überall da, wo neue Stromleitungen geplant werden, rufen die Bürger schnell "Elektrosmog" oder "Umweltverschandelung" und legen sich quer

Berlin. Kleine Aufstände à la Stuttgart 21 gibt es Dutzende in Deutschland. Überall da, wo neue Stromleitungen geplant werden, rufen die Bürger schnell "Elektrosmog" oder "Umweltverschandelung" und legen sich quer. Die Proteste dürften noch zunehmen, wenn stimmt, was die Deutsche Energie-Agentur (Dena) errechnen ließ: Demnach müssen in den nächsten zehn Jahren bis zu 3600 Kilometer neue Hochspannungsleitungen gebaut werden, um den Ökostrom zu den Verbrauchern zu bringen. Das sind vier bis fünf große Trassen durch die ganze Republik.Die Studie geht von ähnlichen Szenarien aus wie die Bundesregierung: also dem massiven Ausbau der Windenergie sowohl auf Nord- und Ostsee wie in Küstennähe an Land. Um den Ökostrom, der dann 39 Prozent der gesamten deutschen Stromerzeugung einnimmt, vom Entstehungsort zu den Abnehmern im Westen und Süden der Republik zu transportieren, müssen 3600 Kilometer neue Hochspannungsleitungen konventioneller Art gebaut werden. Kosten: 9,7 Milliarden Euro. Viel weniger, nur 1700 Kilometer neue Leitungen, wären nötig, wenn dabei Hochtemperaturseile eingesetzt würden, die den Strom besser leiten. Doch muss dann auch ein Großteil des alten Netzes an diese Technik angepasst werden, was die Gesamtkosten auf 17 Milliarden Euro steigen lässt. Der einzelne Stromkunde würde davon wenig spüren. Der Strompreis stiege bei der billigen Lösung laut Energieagentur nur um 0,2 Cent pro Kilowattstunde, bei der teuren um 0,5 Cent.

Auf diesen geringen Unterschied wiesen die Grünen hin und betonten, dass gewisse Mehrkosten für einen menschen- und umweltfreundlichen Netz-Ausbau vertretbar seien. Grundsätzlich erkenne ihre Partei an, dass der Ausbau der Netze "richtig und wichtig" sei, sagte die Grünen-Abgeordnete Ingrid Nestle.

Die Deutsche Umwelthilfe sprach sich dafür aus, auch die Erdkabel-Technologie zu forcieren. "So könnte die Akzeptanz der Neubautrassen vielerorts erheblich verbessert werden". Doch die Kabel-Technik ist erheblich teurer und auf langen Strecken schwer zu handhaben. Eine Komplett-Lösung für den zusätzlichen Leitungsbedarf mit Stromtunneln käme auf Kosten von über 50 Milliarden Euro.

Die Dena empfahl der Regierung, jetzt in die "trassenscharfe" Planung zu gehen. Wie drängend das Problem ist, zeigt sich darin, dass von den 850 Kilometern neuen Fernleitungen, die die Dena 2005 in einer ersten Studie für die Zeit bis 2015 empfohlen hatte, bisher erst 90 Kilometer realisiert wurden. Diese 850 Kilometer setzt die Dena bei ihrer neuen Bedarfsanalyse als gebaut voraus. In den vergangenen Jahren kam es wiederholt vor, dass Windräder wegen der Netzengpässe angehalten werden mussten. Die Bundesregierung will im nächsten Jahr ein Konzept für ein "Zielnetz 2050" entwickeln, einen kurzfristigen Bundesnetzplan vorlegen und die Genehmigungsverfahren beschleunigen.

Ja zu neuen Leitungen

Von SZ-RedakteurVolker Meyer zu Tittingdorf

Wer mehr Ökostrom will, muss Ja zum Ausbau der Stromnetze sagen. Initiativen, die diesen nötigen Ausbau blockieren, laufen Gefahr, im Namen des Umweltschutzes die Umwelt zu schädigen. Denn die Klimaziele bleiben ohne neue Stromtrassen Wunschdenken. Besonders die Grünen, die Naturschutzverbände, aber auch die betroffenen Bürger stehen in der Verantwortung. Wer grundsätzlich den Netzausbau fordert, darf ihn vor Ort nicht mit allen Mitteln bekämpfen. Sicher finden Erdkabel am ehesten Zustimmung, aber die neuen Fernleitungen komplett in die Erde zu verlegen, ist ein zu aufwendiges und zu kostspieliges Vorhaben.

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