Online-Pornografie Ein Versehen, das verstören kann

Saarbrücken · Kinder und Jugendliche stolpern nach einer aktuellen Internet-Studie immer öfter ungewollt über Porno-Seiten und Gewaltvideos.

 Ihren ersten Kontakt mit pornografischen Inhalten machen Kinder heutzutage überwiegend im Internet.

Ihren ersten Kontakt mit pornografischen Inhalten machen Kinder heutzutage überwiegend im Internet.

Foto: dpa-tmn/Patrick Pleul

Kinder und Jugendliche werden über das Internet sehr früh mit explizit sexuellen Inhalten konfrontiert. Zu diesem Ergebnis kommt eine repräsentative Befragung von Kommunikationswissenschaftlern der Universitäten Münster und Hohenheim in Stuttgart. Fast die Hälfte der 1048 befragten 14- bis 20-Jährigen gab an, beim Surfen schon einmal Hardcore-Pornografie mit entblößten Geschlechtsteilen gesehen zu haben. Bei der jüngsten Gruppe, den 14- und 15-Jährigen, war es ein Drittel.

Die Ergebnisse legen nach Auskunft von Professor Thorsten Quandt von der Uni Münster nahe, „dass Kinder und Jugendliche mit etwas konfrontiert werden, was sie weder sehen wollen noch richtig verstehen.“ Da die Mediennutzung oft heimlich passiere, müssten sie mit der Verarbeitung dieser Inhalte allein zurechtkommen. In 40 Prozent der Fälle schauten die jungen Internetnutzer pornografische Bilder oder Filme das erste Mal mit ihren Freunden an, bei den 14- und 15-Jährigen waren es sogar 60 Prozent. Die Jugendlichen seien beim Erstkontakt mit harter Internet-Pornografie im Durchschnitt 12,7 Jahre alt gewesen.

Der Kinder- und Jugendpsychotherapeut Dr. Christian Lüdke warnt in diesem Zusammenhang aber vor Panikmache bei den Eltern. „Das Thema ist wichtig, um die Kinder zu schützen“, so der 57-Jährige, „aber ich finde es nicht so dramatisch, wie es dargestellt wird.“ Natürlich könnten die Jugendlichen erschrecken, wenn sie, etwa beim gemeinsamen Surfen im Internet mit Freunden, unverhofft pornografisches Material zu sehen bekommen. „Aber das wird keinerlei Schäden und Beeinträchtigungen oder Auswirkungen auf das spätere Sexualleben haben“, erklärt der Trauma-Experte. „Die Wirkung dieser Bilder hat nichts Dramatisches.“

Bedeutender betrachte er aus kinderpsychologischer Sicht eher das Bild, das vor allem Jungen von Frauen bekommen könnten: „Wenn die Jugendlichen in den Pornos sehen, Frauen könne man nehmen und benutzen, dann finde ich das sehr viel kritischer, weil sie nicht eine Frau-Mann-Beziehung auf Augenhöhe wahrnehmen, sondern Frauen instrumentalisiert werden.“ Nach Ansicht Lüdkes gebe es in diesem Zusammenhang nur eine kleine Gruppe, bei der eine kritische Entwicklung eintreten könne: Nämlich dann, wenn sexuelle Erregungen mit Gewaltphantasien gekoppelt werden und Jugendliche, meistens in der Phase der Hochpubertät im Alter von 14 oder 15, aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus Allmachtsphantasien entwickelten. „Wenn sie sich in der Erregung vorstellen, wie sie jungen Frauen in Verbindung mit Sex Schmerzen zufügen, sie würgen oder strangulieren, kann das eine gefährliche langfristige Wirkung haben.“ In einem solchen Fall sei therapeutische Hilfe erforderlich.

Der Umfrage zufolge spricht mehr als die Hälfte der Jugendlichen nach dem Erstkontakt mit einem Porno-Film mit niemandem darüber. Nur vier Prozent diskutieren den Vorfall mit Lehrern oder Eltern. Die Diskussionsbereitschaft sei dabei abhängig vom Gefühl beim ersten Sehen von pornografischen Inhalten. Eine Erkenntnis, die der Kinder- und Jugendlichentherapeut für normal hält. „Natürlich sind diejenigen, die sich angeekelt gefühlt haben, eher bereit, darüber zu sprechen. Und dann auch lieber mit Freundinnen und Freunden, als mit den Eltern“, meint Lüdke. „Mütter und Väter sind für dieses Thema bei Jugendlichen nie die richtigen Ansprechpartner. Das ist in Ordnung und schon immer so gewesen. Das machen die lieber unter Gleichaltrigen aus.“

Neu sei nur, dass Jugendliche heute die ersten Erfahrungen mit Pornografie überwiegend im Internet machten und nicht mehr wie früher mit Zeitschriften, Videofilmen oder Fernsehen. Eltern, die sich dennoch Sorgen machten, rät Lüdke, frühzeitig über das Thema Sexualität aufzuklären – schon mit Eintritt in die Grundschule. „Eltern sollten ihre Kinder darauf vorbereiten, dass es eine normale gesunde Sexualität gibt“, so der Therapeut, „und sie sollten ebenso darauf hinweisen, dass es auch einen weniger schönen Bereich gibt. Wie eben solche Filme im Internet.“

In 29 Jahren seiner Tätigkeit als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut sei das Thema Pornografie in dieser Form jedoch nie Thema bei den Patienten gewesen. „In all den Jahren hatte ich keinen einzigen Fall, dass diese Erfahrung der Auslöser für Ängste oder Depressionen war.“ Das sei eher bei Gewaltvideos der Fall, die sich Kinder und Jugendliche online anschauten oder auch Handy-Videos von den Terroranschlägen in Berlin und Nizza. „Das ist wirklich grauenvoll und verstörend und ist eher Thema bei der Therapie, weil diese Ereignisse deutlich belastender sind als das pornografische Material.“

Wissenschaftliche Studien hätten gezeigt, dass ein Trauma auch dadurch entstehen könnte, sich permanent solche Bilder anzuschauen – ohne das Geschehen überhaupt selbst erlebt zu haben. Die Folgen davon seien an Verhaltensänderungen zu erkennen: Zum Beispiel wenn ein Kind verstumme, plötzlich nicht mehr mit Eltern oder Freunden rede und sich zurückziehe. Lüdke: „Das ist ein Alarmsignal, ebenso, wenn der Jugendliche plötzlich sehr aggressiv ist. Mehr, als es für eine bestimmte Entwicklungsphase typisch ist. Wenn er verbal ausfallend ist oder im schlimmsten Fall selbstverletzendes Verhalten zeigt.“ All das seien deutliche Zeichen, dass der Jugendliche belastet sei und etwas nicht verarbeitet habe.

Eltern müssten dann offen ihre Hilfe anbieten und nicht sofort aufgeben, wenn ihre Tochter oder ihr Sohn nicht direkt darauf reagiere. „Beim ersten Mal werden Kinder und Jugendliche die Hilfe wohl ablehnen“, vermutet der Psychotherapeut. „Aber Eltern müssen Geduld haben. Denn das Signal kommt an und das Kind sieht: Ich bin mit meinem Problem nicht alleine. Dann fasst er irgendwann Mut, darüber zu reden, was ihn beschäftigt.“

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