Medizin Mit Viren gegen Tumorzellen

Heidelberg · Neues Therapieverfahren der Krebsmedizin will Tumore mit gentechnisch veränderten Krankheitserregern bekämpfen.

 Bei der sogenannten Virustherapie sollen Zellen eines Tumors mit genetisch veränderten Viren zerstört werden.

Bei der sogenannten Virustherapie sollen Zellen eines Tumors mit genetisch veränderten Viren zerstört werden.

Foto: Getty Images/ iStockphoto/Jakub Rupa

Viren lösen viele Krankheiten aus, darunter einige Krebsarten. Doch sie können Tumore auch zerstören und zur Heilung beitragen. Seit 2015 ist in Europa ein Verfahren zugelassen, bei dem speziell modifizierte Herpes-Viren als Therapie gegen Schwarzen Hautkrebs eingesetzt werden. „Krebszellen vermehren sich schnell. Das ist gut für Viren, die sich ebenfalls schnell verbreiten möchten“, sagt Christine Engeland, Laborleiterin der Arbeitsgruppe Virotherapie am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg.

Tumore müssen das Abwehrsystem ihrer Zellen herunterfahren, weil dieses sonst die Entartung dem Immunsystem melden und der Krebs vom Körper bekämpft würde. Krebszellen entwickeln also eine Art Tarnkappe, um nicht erkannt und zerstört zu werden. „Diese Tarnung sichert dem Tumor das Überleben, ist aber auch seine Schwachstelle. Denn wenn die Abwehr einer Zelle nicht optimal funktioniert, haben Viren leichtes Spiel“, erklärt Engeland.

 Ein Virus hat keinen eigenen Stoffwechsel und kann sich nicht eigenständig vermehren. In seiner Hülle trägt ein Virus nur seine Erbinformationen, die es in eine Wirtszelle einschleust. Diese wird dadurch auf die Vermehrung des Virus umprogrammiert. Sie produziert nun viele neue Viren bis sie letztendlich aufplatzt und massenhaft neue Krankheitserreger freisetzt. Die Wirtszelle wird dabei zerstört. Ist es eine Krebszelle, schrumpft der Tumor praktisch durch die Virenproduktion, der Fachausdruck lautet Onkolyse.

Neben den Viren setzt die Wirtszelle noch weitere Stoffe frei, die bestimmten Immunzellen, den Dendriten, die Infektion melden und das Immunsystem aktivieren. Der Körper wird dadurch auf den Tumor aufmerksam und beginnt ihn selbst zu bekämpfen. „Die Viren greifen Krebszellen praktisch doppelt an. Sie zerstören sie durch ihren Vermehrungszyklus zum einen aktiv und machen sie zum anderen für die körpereigene Abwehr sicht- und angreifbar. Wir sprechen vom Tumor-Impf-Effekt“, beschreibt Engeland die Abläufe der sogenannten Virotherapie.

Im Idealfall infizieren Therapie-Viren nur Krebszellen. Um dies zu erreichen, verändern die Wissenschaftler diese Viren. Je nach Einsatzgebiet und Tumorart werden unterschiedliche Viren verwendet. Welches Virus für welchen Tumor am besten geeignet ist, muss sich erst zeigen. Anhand einer Gewebeprobe kann im Labor untersucht werden, ob sich ein ausgewähltes Virus gut in den Tumorzellen vermehren kann. „Im Grunde kann jedes Virus jeden Tumor zerstören, und weil Viren Krebszellen aufgrund deren in der Regel stark verminderten Abwehr besonders leicht befallen, sind sie allgemein auch ihr bevorzugtes Ziel. Entscheidend für den Therapie-Einsatz eines Virus ist jedoch, dass es für den Menschen gut verträglich ist. Die Nebenwirkungen müssen beherrschbar, der Patient darf nicht gefährdet sein“, sagt Ulrich Lauer, Leiter einer Forschergruppe am Virotherapie-Zentrum Tübingen (VCT). Gut geeignet sind daher Impfviren, wie gegen Masern oder Pocken, deren Ungefährlichkeit seit Jahrzehnten belegt ist.

Bei einer Virotherapie bekommt der Patient ein Tausendfaches der Impfdosis verabreicht, teilweise sogar eine noch höhere Virenanzahl. Das Gewebe wird praktisch mit Viren überflutet. Entweder werden die Viren gezielt in den Tumor oder in den Blutkreislauf gespritzt. Mit der Zeit verbreiten sie sich und die Immunantwort wirkt im ganzen Körper, so dass auch Metastasen bekämpft werden. Die hohe Dosis ist nötig, damit das Immunsystem die Viren nicht abfängt, bevor sie die Krebszellen infizieren können.

Der Patient spürt dabei die üblichen Symptome eines grippalen Infekts. Diese können durch Medikamente gemindert und kontrolliert werden. „Alle Krebstherapien haben teils sehr unangenehme Nebenwirkungen. Der Vorteil der Virotherapie ist, dass sie sehr spezifisch wirkt und in aller Regel keine Organe beeinträchtigt oder schädigt, wie andere Behandlungsformen das häufig tun“, sagt Ulrich Lauer.

Derzeit ist die Virotherapie nur gegen fortgeschrittenen Schwarzen Hautkrebs (Melanom) zugelassen. Geforscht wird jedoch bei allen Krebsarten. „Einige Studien sind schon weit fortgeschritten, neue Zulassungen könnten schon 2020 möglich sein“, meint Lauer.

Jedes Jahr erkranken allein in Deutschland mehr als 600 000 Menschen an Krebs. Statistisch ist jeder zweite Mann und jede dritte Frau einmal im Leben betroffen. Theoretisch können nur Krebspatienten mit geschwächtem oder unterdrücktem Immunsystem nicht mit Viren behandelt werden, also immunsupprimierte Personen und Menschen, die HIV-positiv sind oder hochdosiert Kortison einnehmen müssen.

Um die Effektivität zu erhöhen, wird auch an den besten Kombinationen der verschiedenen Therapieformen geforscht. Und daran, wie die Therapie-Viren vor den frühen Angriffen des Immunsystems geschützt werden können. „Es wird untersucht, ob die Viren in Stammzellen oder andere Schutzhüllen verpackt und so quasi als Trojaner in den Körper eingeschleust werden können. Dann würden sie von der Immunabwehr bis zu ihrem Ziel, den Krebszellen, nicht als zu bekämpfende Fremdkörper erkannt. Alternativ können Abwehrreaktionen des Körpers vorübergehend medikamentös unterdrückt werden“, erläutert Lauer.

Seine Tübinger Forschungsgruppe hat mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) ein spezielles Virus entwickelt und patentieren lassen. Dieses sogenannte rekombinante Masern-Impfvirus trägt ein zusätzliches Selbstzerstörungs-Gen in sich und kann dadurch mehr Tumorzelltypen zerstören als bisherige Virenvarianten. „Dieses wirkverstärkte Virus wird jetzt für den klinischen Einsatz in größeren Mengen hergestellt und voraussichtlich Ende des Jahres erstmals an Patienten getestet. Es soll dann zunächst gegen Magen-, Speiseröhren- und Dickdarmkrebs eingesetzt werden“, sagt Lauer.

In Heidelberg und anderen Kliniken ist eine Studie mit Masern-Impfviren gegen Leberkrebs in der letzten Phase. Was bedeutet, dass auch bei dieser Tumorart demnächst eine neue Therapie zur Verfügung stehen könnte. Doch Christine Engeland warnt vor überhöhten Erwartungen: „Im Labor und in Studien sehen viele Ansätze für den therapeutischen Einsatz von Viren sehr vielversprechend aus. Doch bis die Virotherapie zu den Standardbehandlungen gehört, dauert es sicher noch lange. Und auch dann wird sie kein Allheilmittel sein.“

Im Idealfall ist ein Patient nach einem einzigen Viren-Einsatz geheilt, normalerweise sind aber mehrere Behandlungen oder Kombinationen mit anderen Therapieformen nötig. Es wird auch am gleichzeitigen Einsatz verschiedener Virusarten geforscht. Oft ist es schon ein Erfolg, wenn die Viren das Tumorwachstum bremsen oder vorübergehend stoppen. Und bei manchen Menschen bewirken die Viren gar keine Verbesserung. „Niemand kann bisher genau vorhersagen, ob und wie erfolgreich die Virotherapie im Einzelfall sein wird. Aber für einige Patienten kann sie eine neue Chance bieten“, sagt Engeland.

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