Serie Lebenswege Kerstin Jessel hat ihr Lachen nie verloren

Neunkirchen/Mannheim/Herford · Wie ist das, von einem geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen? Die SZ spricht mit Angehörigen und Freunden und stellt in einer Serie Lebenswege Verstorbener vor. Heute: Kerstin Jessel, geborene Becker.

 Mit Sekt begann für Kerstin Jessel das Jahr 2014, im Herbst starb die junge Frau an Mukoviszidose.

Mit Sekt begann für Kerstin Jessel das Jahr 2014, im Herbst starb die junge Frau an Mukoviszidose.

Foto: Familie Jessel/Becker

Kerstin Jessel, geborene Becker, Jahrgang 1976, war schon als Kind ein munteres und lustiges Mädchen, wie ihre Mutter Heidi Becker erzählt. Mit Schwester Jessica und dem Rest der Familie war sie in der Fastnacht engagiert. Während die Jüngere als Tanzmariechen über die Bühne wirbelte, tanzte Kerstin Becker beim KV Eulenspiegel Furpach in der Garde. So gut, dass es für die Geschwister bis zu den Deutschen Meisterschaften ging. Nie stand dabei die Krankheit Mukoviszidose im Vordergrund, deren Diagnose bei Kerstin im Alter von zwei Jahren gestellt wurde. Relativ spät, wie die Mutter findet, die bis dahin nur bemerkt hatte, dass ihre Tochter sehr oft an Bronchitis litt. „Wir mussten dann sehr auf die Ernährung und die Verdauung achten“, erinnert sich Heidi Becker, „als Kind mussten wir sie ,abklopfen‘, damit sich der Schleim löst. Das hat ihr gar nicht gefallen.“

Wenn Heidi Becker über ihre Tochter spricht, steht deren Lebensfreude im Mittelpunkt. Trotz der Krankheit sollte diese nicht Oberhand gewinnen, sie gehörte eben zum Leben dazu. Dass dies nicht nur ein Spruch war, sieht man den vielen Bildern im Familienalbum an, auf denen eine lebenslustige, lachende junge Frau zu sehen ist, mal mit Freunden, Arbeitskollegen oder mit ihrer Familie. Heidi Beckers Freundin verbindet mit Kerstin das Lied „Die immer lacht“. Kerstin Jessel hat Kunst geliebt, gemalt und tanzte gern.

Kerstin, Tochter eines Diplom-Verwaltungswirts und einer Einzelhandelskauffrau, besuchte das Steinwald-Gymnasium in Neunkirchen. Ein erster Meilenstein, denn die damalige Prognose der Lebenserwartung stand bei 14 Jahren, die die Ärzte später auf 18 Jahre „korrigierten“. Nach dem Abitur lernte die junge Frau drei Jahre das Schneiderhandwerk in St. Ingbert, der Umgang mit Stoffen, Farben und das Handwerkliche reizten sie. Die Berufsschule in Saarbrücken schloss sie damals als Saarlands Beste ab. Noch heute zeigt ihre Mutter voller Stolz das türkisfarbene Seidenkostüm, das Prüfungsstück ihrer Tochter. „Wenn sie abends in die Disko wollte, dann ging sie morgens in die Stadt, kaufte sich Stoff, nähte den ganzen Tag und hatte abends ein neues Outfit.“ Doch in diesem Beruf habe sich die Tochter die „Finger blutig genäht und wenig verdient“, weshalb sie sich bei der Agentur für Arbeit für ein Studium zur Diplomverwaltungswirtin bewarb. Dafür ging sie mit 23 Jahren nach Mannheim. „Das hat ihr gefallen. Endlich eine Studentenbude und nicht mehr unter der Kontrolle der Eltern“, sagt Heidi Becker lachend.

Wieder ein wichtiger Schritt in Kerstins Leben, lernte sie doch dort ihren späteren Mann Björn kennen, der dasselbe studierte, aber aus Nordrhein-Westfalen kam. Nach ihrem Abschluss kam sie nochmal kurz ins Saarland zurück, ging dann zuerst als Berufsberaterin für schwer vermittelbare Jugendliche nach Minden, während sie eine Bewerbung nach Herford abschickte. „Dort war sie sehr beliebt. Ein lustiges saarländisches Mädchen kann eben jeden begeistern“, findet Heidi Becker, „sie hat gern im Team gearbeitet. Ihre Kolleginnen waren auch ihre Freundinnen.“ Fotos zeigen sie beim Mädelsabend, einer Pyjamaparty oder einem Schmuckkurs.

Das junge Paar wäre gern in der Mannheimer Gegend geblieben, aber der Schwiegervater in spe starb. Kerstins Freund wollte seine Mutter in der Trauer um ihren Mann nicht allein lassen. So zog das Paar nach Ostwestfalen. „Zweimal im Jahr haben wir uns gesehen. Sie hat sich dort sehr wohl gefühlt, so wie ich auch. Deshalb ist ihr Grab auch dort.“

Vorm Bezug des eigenen Hauses in Bünde heiratete Kerstin Becker ihren Björn. „Pass auf Kerstin auf“, bat die Mutter den Mann an der Seite ihrer Tochter, die seit der Hochzeit im Mai 2010 in Amerika Kerstin Jessel hieß. Noch heute zieht Heidi Becker den Hut vor ihm, wie er mit der Krankheit seiner Frau umgegangen ist, die er bis zum Schluss positiv begleitet hat.

Ihrer Mutter ist Kerstin Jessel als sehr zielstrebig in Erinnerung. Sie habe sich immer durchgesetzt und ihre Ziele erreicht, das von ihr geplante Haus sei geradlinig wie sie gewesen „mit wenig Schnickschnack“. Da war sie schon „Dauergast“ in der Muko-Ambulanz in Münster, wo sie stundenlang intravenös Antibiotika bekam. Eine Krankengymnastin erleichterte ihr den Umgang mit der Krankheit. Eine zeitaufwendige Prozedur, die sie in den letzten zwei Jahren ihres Lebens stark einschränkte, aber sie konnte von zu Hause arbeiten. Mittlerweile war sie Pressesprecherin der Agentur für Arbeit in Herford. Als ihr Lungenvolumen unter 30 Prozent gefallen war, stand Kerstin Jessel auf der Liste für eine Lungentransplantation. Doch die wollte sie eigentlich nicht, „hatte einen Riesenrespekt vor der OP“. Gern hätte sie noch viele Reisen gemacht und die Einschulung der Nichte erlebt, doch das ließ die Krankheit nicht zu.

Im Augst 2014 war Kerstin Jessel noch einmal bei den Eltern im Saarland, später mit ihrem Mann in St. Peter Ording, von wo es für sie mit hohem Fieber ins Krankenhaus ging. Selbst dort verlor sie nie den Lebensmut, bestellte sich mit ihrem Besuch Sushi ans Krankenbett. Auch einen Termin mit dem Bestatter hatte sie ausgemacht. Als es ihr zunehmend schlechter ging, versetzte man Kerstin Jessel ins künstliche Koma. Am 18. September 2014 starb die junge Frau.

Auf der Seite „Momente“ stellt die SZ im Wechsel Kirchen und Lebenswege Verstorbener vor. Online unter saarbruecker-­zeitung.de/lebenswege

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