Geburt „Für viele ist es der Sinn des Lebens“

Saarbrücken · Die Saarbrücker Hebamme Anne Wiesen über den Mythos Geburt und ein archaisches Erlebnis in einer technisierten Welt.

 Für junge Paare ein überwältigendes Erlebnis: die Geburt ihres Kindes.

Für junge Paare ein überwältigendes Erlebnis: die Geburt ihres Kindes.

Foto: picture alliance / dpa/Arno Burgi

An Weihnachten feiern Millionen Menschen die Geburt Jesu. Eine Geburt in einem Stall. In der Überlieferung erstrahlt der Stern von Bethlehem, es singen himmlische Chöre. In der magischen Szenerie, die das Weihnachtsevangelium beschreibt, wird der physische Geburtsvorgang allerdings sehr knapp gehalten: „Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe.“ Über den hochemotionalen Moment einer Geburt, über Glücksgefühle, aber auch Schmerzen, Anspannung und Zweifel sprechen wir mit der Hebamme Anne Wiesen. Sie hat 3000 Kinder zur Welt gebracht.

Frau Wiesen, in der kunstgeschichtlichen Darstellung der Geburt Jesu liegt das Kind in Windeln in der Krippe, ein Glanz umgibt es. Maria und Josef blicken glücklich drein. Zwei Jahrtausende später schicken Eltern ästhetisierte Fotos mit ihrem neugeborenen Nachwuchs per Whats App in die Welt. Verklären diese Darstellungen, was eine Geburt wirklich bedeutet?

WIESEN Ja, auf jeden Fall. Die Geburt an sich ist einfach nur anstrengend, sie tut weh und hat mit ästhetischen Kunstdarstellungen oder Fotos wenig zu tun. Es ist ein Kraftakt für Mutter und Kind. Der schönste Moment ist natürlich der, wenn das Kind endlich in den Armen der Mutter liegt.

Was macht dieses unglaubliche Glück junger Eltern aus?

WIESEN Die Spannung, die sich während der gesamten Schwangerschaft aufgebaut hat, löst sich bei der Geburt auf. Die jungen Paare sind überwältigt, weil da ein Mensch geboren wird, der alles kann. Ein fertiges Kind. Es schaut erstaunt, schreit, zeigt, dass es da ist, oder äußert Missfallen. Sein Temperament, so nehme ich das oft wahr, ist schon in den ersten Stunden erkennbar. Manche Babys sehen aus wie weise, alte Menschen, wenn sie geboren werden. Sie schauen in die Welt, als wüssten sie alles. Andere schauen übellaunig, als seien sie aus dem Paradies vertrieben worden. Zum anderen ist dieser kleine Mensch dann auch noch ein Teil von einem selbst. Das ist eine große Befriedigung, und für viele Menschen ist es der Sinn des Lebens, sich zu vermehren. Hinzu kommen natürlich chemische Vorgänge. Die En–dorphine, die bei der Geburt ausgeschüttet werden, bewirken, dass der Schmerz für die Mutter erträglicher ist und dass sie drei Tage völlig euphorisch ist.

Früher gab es keine Pränatal-Diagnostik oder Geburtsvorbereitungskurse, keine Wehen-Apps fürs Handy oder Hunderte von Ratgebern zum Thema Schwangerschaft und Geburt. Ist die Geburt heute nicht viel leichter geworden?

WIESEN Nein. Heute haben wir zwar Gott sei Dank andere Zeiten, in denen dank medizinischer Errungenschaften eine Geburt für Mutter und Kind sicher ist. Aber das macht sie für die Frau natürlich nicht leichter. Die Geburt ist immer noch ein hochkomplexer körperlicher Vorgang, ein Zusammenspiel zwischen Frau und Kind, das sich über Stunden hinziehen kann. Der Schmerz ist das wichtige Signal des Körpers, das der Frau anzeigt, sich an einen sicheren Ort zurückzuziehen, um zu gebären. Dieser so wichtige Rückzug ist für Frauen heutzutage fast unmöglich geworden, weil von außen so viel auf sie einprasselt. Durch die Informationsfülle ist es schwieriger geworden, bei der Geburt ganz bei sich zu sein. Genau das erfordert aber der Geburtsvorgang.

Unterliegt die Geburt auch Moden?

WIESEN Ja, schon seit vielen Jahrhunderten. Nach dem Krieg zum Beispiel wurde im Kreißsaal sehr verschult gearbeitet, weil die Säuglingssterblichkeit in Deutschland sehr hoch war. Da wurden die Kinder nicht wie heute auf den Bauch der Mutter gelegt, sondern erstmal nach dem Abnabeln auf den Wickeltisch geschleppt und untersucht. Die Säuglinge haben viel mehr geschrien als heute. In den 60ern gab es dann zum Beispiel die Mode, den Frauen bei der Geburt eine kurze Narkose zu geben, um die Schmerzen beim Durchtritt des Köpfchens zu verringern. Das heißt, die Frauen haben den Moment der Geburt gar nicht bewusst erlebt. In den 70ern wollte man dann Sicherheit durch Planbarkeit, viele Geburten wurden eingeleitet, heute wissen wir, dass das nicht optimal ist. Trotzdem gibt es heute Frauen, die selbst auf eine Einleitung oder einen Wunschkaiserschnitt drängen, und Ärzte, die das ohne Not unterstützen.

In einem rationalen Zeitalter möchte man ein nicht planbares Ereignis planbar machen…

WIESEN Ja, weil die Geduld fehlt. Aber das funktioniert häufig nicht. Denn jede Form des Eingriffs in den Geburtsvorgang kann eine Komplikation nach sich ziehen. Die Zahl der Einleitungen ist auch im Saarland in den vergangenen Jahren aus Angst vor Klagen bei Geburtskomplikationen gestiegen. Wir wissen heute aber, dass, je länger eine künstliche Einleitung dauert, das Risiko umso höher ist, dass die Geburt mit einem Kaiserschnitt endet. Und ein Kaiserschnitt ist kein Klacks, da hat die Frau die Schmerzen nach der Geburt und ist stark eingeschränkt. Das gleiche gilt für Wunschkaiserschnitte. Hier erarbeiten medizinische Fachgesellschaften übrigens gerade eine Leitlinie, wonach Kaiserschnitte bald nur noch möglich sein sollen, wenn sie medizinisch auch wirklich notwendig sind. Das wird wohl das Ende für Wunschkaiserschnitte bedeuten. Die Leitlinie soll Mitte kommenden Jahres fertig sein (siehe Infokasten).

Was sagen Sie Frauen, wenn diese Angst haben vor der natürlichen Geburt und keine medizinische Notwendigkeit für einen Eingriff besteht?

WIESEN Vertrauen zu haben, flexibel zu sein, loszulassen und nicht mit Verneinungen zu arbeiten, sondern positive Wünsche an die Geburt zu formulieren. Das Kind gibt das Signal zur Geburt, wenn es bereit ist. Dann setzen die Wehen ein. Alles andere regelt die Natur – und das seit Jahrtausenden gut.

Auch seit Jahrtausenden war das Gebären Frauensache. Heute leisten die meisten Männer ihren Frauen im Kreißsaal Beistand. Eine positive Entwicklung?

WIESEN Die meisten Männer gehen gerne mit und sie können ihren Frauen als moralische Stütze helfen. Wir Hebammen haben ja nicht permanent Zeit, uns um die Frauen zu kümmern. Wir sind meistens froh, wenn die Frauen begleitet werden. So eine Geburt kann ja lange dauern. Was mir allerdings auffällt, ist dass manche Männer schon unter einem regelrechten gesellschaftlichen Druck stehen, dem sie sich kaum noch entziehen können. Sie würden vielleicht lieber nicht mitgehen, weil sie sich dem nicht gewachsen fühlen, trauen sich das aber gar nicht mehr zu sagen. Diesen Männern kann ich nur Mut machen, das mit ihren Partnerinnen ehrlich zu besprechen. Denn nicht jeder ist dem emotionalem Wechselbad und dem, was er im Kreißsaal sieht, gewachsen und gerade, wenn die Dis­tanz zur Frau fehlt, weil man sie liebt, kann es sehr anstrengen, sie vielleicht über Stunden leiden zu sehen. Manche Männer fühlen sich dann regelrecht unzulänglich, weil sie Macher sind und in dieser Situation aber einfach nichts tun können, außer zu warten. Das wiederum kann im schlimmsten Fall eine Beziehung und auch die Geburt beeinträchtigen, weil es zu Konflikten führt.

Smartphones haben unser Leben verändert. Eigentlich sind Handys ja im Kreißsaal verboten, weil sie die Geräte stören. Trotzdem halten sich die wenigsten Paare an das Verbot. Macht Sie das sauer?

WIESEN Ja. Wir erleben es ganz oft, dass Frauen bei der Geburt dauernd auf ihr Handy starren, was sie vom Geburtsvorgang total ablenkt. Und wir erleben Väter im Kreißsaal, die schon ein Foto für Whats App von ihrem Kind machen, bevor sie das Neugeborene überhaupt mal richtig angefasst und kennengelernt haben. Da wünsche ich mir manchmal das Zeitalter von Maria und Josef zurück.

Das Foto der glücklichen Eltern aus dem Kreißsaal zeigt nur den Beginn eines neuen Lebensabschnittes. Die eigentliche Arbeit beginnt dann aber erst …

WIESEN Ja, das übersehen Paare oft. Das Versorgen und Umsorgen des Kindes fängt mit der Geburt an und bleibt Jahre so. Das verändert die Beziehung der Eltern auch erstmal. Es geht nicht mehr ausschließlich um Leidenschaft, sondern um die Bedürfnisse des Kindes. Natürlich wird das auch wieder anders, wenn das Kind größer wird, aber Paare müssen sich gedulden. Wenn die Beziehung das erste harte Jahr mit Schlafmangel und dem neuen Druck der Verantwortung übersteht, ist sie gereifter, stabiler.

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