Kieferorthopädie-Studie Gesunde Zähne – mit oder auch ohne Spange?

Saarbrücken/Berlin · Eine Zahnspange zu tragen ist nicht unbedingt ein Vergnügen – und kostet Geld. Über deren Sinn streiten jetzt Politik und Experten.

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Foto: SZ

 Was haben Schauspieler Tom Cruise, Fußballer Cristiano Ronaldo und Briten-Prinz Harry gemeinsam? Erstens: Sie sind so berühmt, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit jeder kennt und deshalb prima für eine Auflistung prominenter Menschen taugen. Und zweitens – und das ist das Entscheidende: Sie haben alle einmal eine Zahnspange getragen – den drahtigen Abtraum eines Teenagers.

Jeder zweite Jugendliche in Deutschland erhält laut einem aktuellen Gutachten des Bundesgesundheitsministeriums eine kieferorthopädische Behandlung – also beispielsweise eine Zahnspange. Die Kosten steigen seit 2005 jährlich an und belaufen sich inzwischen auf 1,115 Milliarden Euro im Jahr. 0,3 Prozent des gesamten Gesundheitsetats. Aber ist diese Prozedur wirklich notwendig?

Weiß nicht, meinte der Bundes­rechungshof bereits im April 2018 dazu. Mit Blick auf die Kosten und die mangelnde Studienlage stellte er öffentlich den Nutzen der Kieferorthopädie infrage und löste so eine bundesweite Debatte aus. Und darauf hat Minister Jens Spahn (CDU) jetzt offiziell reagiert – und Ergebnisse eines eigenen Gutachtens in Umlauf gebracht. Die „Bild“-Zeitung hatte unter Berufung auf ein Schreiben des Ministeriums an den Bundestag vorab über die mehr als 100-seitige Meta-Studie berichtet. Darin heißt es, dass es derzeit „keine ausreichende Evidenz für den patientenrelevanten Nutzen kieferorthopädischer Leistungen“ gebe. Die „Bild“ folgert daraus: „Die Zahnspangen nutzen häufig wohl vor allem dem Geldbeutel der Ärzte.“ In der Überschrift heißt es dann noch „Wird mit Zahnspangen Abzocke gemacht?“. Zudem seien jetzt durch das Gutachten „alle Zweifel am Sinn der Kieferorthopädie bestätigt“.

Der Ministeriumssprecher wies dies jedoch gestern entschieden zurück. Man zweifle nicht an der Notwendigkeit kieferorthopädischer Leistungen. Dass beispielsweise Zahnspangen Probleme wie Karies, Parodontitis oder Zahnverlust verringern, „kann zwar nicht belegt werden“, sei aber dem Gutachten zufolge „auch nicht ausgeschlossen“. „Prinzipiell bewertet den Nutzen einer Therapie nicht der Gesetzgeber“, hieß es weiter.

Tatsächlich lässt sich der vom Berliner IGES-Institut erstellten Studie zufolge aufgrund der geringen Datengrundlage „keine abschließende Einschätzung vornehmen, ob und welche langfristigen Auswirkungen die angewendeten kieferorthopädischen Therapieregime auf die Mundgesundheit haben“. Auf Basis der Daten könne „nicht beurteilt werden, ob die Ausgaben in der kieferorthopädischen Versorgung den Kriterien der Wirtschaftlichkeit genügen“, heißt es weiter.

Der Bundesverband der Deutschen Kieferorthopäden lief gestern zumindest Sturm. Den „Abzocke“-Verdacht wies deren Vorsitzender Hans-Jürgen Köning „in aller Deutlichkeit zurück“. Vielmehr sei und bleibe „die Kieferorthopädie ein wesentlicher Bestandteil der Zahnheilkunde“ – auch nach der Studie. Ähnlich sagte es der Saarbrücker Arzt Michael Wagner zur SZ: „Im Gutachten heißt es zwar, dass ein Nutzen für die Mundgesundheit mangels aussagekräftiger Studien nicht hinreichend belegt ist, was aber nicht heißt, dass es ihn nicht gibt.“ Das IGES-Institut bestätige sogar ausdrücklich, „dass die Kieferorthopädie die Lebensqualität der Menschen erhöht. Und das sehe ich genauso“, sagte Wagner. 

Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen teilte gestern indes mit, er habe schon früher darauf hingewiesen, dass die Forschungslage „relativ dünn“ sei. Er würde jetzt prüfen, „ob ein Antrag zur Nutzenbewertung kieferorthopädischer Leistungen im Gemeinsamen Bundesausschuss sinnvoll ist“. Abhängig vom Ergebnis könnten dann gegebenenfalls Leistungen angepasst werden.

Und jetzt? Minister Spahn will erstmal mit Experten über „den weiteren Forschungsbedarf und Handlungsempfehlungen“ sprechen. Und dann womöglich eine neue Studie in Auftrag geben, die dem Sinn von Zahnspangen weiter auf den Grund geht. Dem selbstbewussten Lächeln von Ronaldo, Cruise und Harry haben sie zumindest nicht geschadet.

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