Debatte um Kieferorthopädie „Jetzt sind schnell weitere Studien über die Zahnspangen nötig“

Berlin · Der Gesundheitsökonom der Universität Duisburg-Essen hält das abschließende Urteil über den Nutzen der Kieferorthopädie noch nicht für gesprochen.

 Jürgen Wasem ist Professor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen.

Jürgen Wasem ist Professor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen.

Foto: Foto: Uni Duisburg-Essen

Minister Spahns aktuelles Gutachten zu Zahnspangen muss Folgen haben, sagt der Essener Gesundheitsökonom Jürgen Wasem.

Ist die Kieferorthopädie für Jugendliche im Prinzip nur Life-Style?

WASEM Die Autoren der Studie stellen fest, dass Zahnfehlstellungen verringert werden und die Lebensqualität verbessert wird. Nicht klar ist jedoch, ob Karies, Parodontitis und der Verlust von Zähnen verhindert werden können. Das ist nach dem aktuellen Gutachten nicht ausreichend bewiesen.

Ist das ein Einzelfall?

WASEM Absolut nicht. Mehr als zwei Drittel der Therapien, die medizinisch gemacht werden, sind nicht auf ihren mittel- und langfristigen Nutzen hin überprüft worden. Man verordnet sie, weil man das immer so gemacht hat, und weil man glaubt, dass sie helfen. Das gilt jedenfalls für alte Anwendungen, zu denen auch die Kieferorthopädie gehört.

Die Krankenkassen übernahmen die Kosten für Zahnspangen bisher nur, wenn bestimmte Indikationen vorlagen, die auf erhebliche Zahn- und Kieferprobleme hindeuteten. Reicht das als Kontrolle nicht aus?

WASEM Es geht hier um zwei unterschiedliche Fragestellungen. Das Indikationsverfahren soll festzustellen, für welche Versicherten die Zahnspangen angezeigt sind. Davon unabhängig ist die übergeordnete Frage, ob das Verfahren langfristig überhaupt einen Nutzen hat. Darum geht es jetzt.

Bedeutet das Gutachten das Ende der Kieferorthopädie an Jugendlichen?

WASEM Es wird weiterer Studien bedürfen, um zu untersuchen, wie das Verfahren mittel- und langfristig tatsächlich wirkt. Diese sollten jetzt sehr rasch in Auftrag gegeben werden. Und dann ist der Gesetzgeber am Zuge und muss entscheiden, ob die Kieferorthopädie im Leistungskatalog der Kassen bleibt oder nicht.

Kritiker sagen, dass die Röntgenbilder bei der Behandlung eine Belastung für die Heranwachsenden sind – und Kieferorthopädie daher mehr Schaden als Nutzen anrichte.

WASEM Auch das ist ein Grund, diese Behandlungsmethode nun eingehend zu untersuchen. Wenn es Risiken gibt, die den Nutzen klar überwiegen, dann sollten die Kassen dafür auf keinen Fall mehr aufkommen.

Viele Eltern zahlen schon jetzt viel Geld für Extraleistungen, auch weil die Kieferorthopädie eine Art Schönheits-OP für Kinder geworden ist. Ist der Kassenzuschuss da überhaupt noch entscheidend?

WASEM Für die Ärzte wohl nicht. Aber wenn die Behandlung tatsächlich einen Nutzen hätte und nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt werden würde, dann ergäbe sich eine soziale Schieflage. Dann könnte man später an den Gebissen sehen, welche Eltern sich die Spange leisten konnten und welche nicht.

Der Maßstab ist aber nicht Soziales, sondern die Verhütung von ernsthaften Folgekrankheiten wie Atem-, Kau- und Sprechproblemen.

WASEM Auch die Lebensqualität gehört zu dem, was Kieferorthopädie verbessern soll. Die kann sich wiederum auch auf das psychische Befinden auswirken, positiv oder negativ. Das alles müsste jetzt eingehend untersucht werden.

Der Bundesrechnungshof hat das Gutachten angestoßen. Warum muss sowas immer von außerhalb des Gesundheitssektors kommen?

WASEM Das ist nicht so. Bei allen neuen Verfahren werden inzwischen durch das Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen vorher systematische Studien über die langfristige Wirksamkeit gemacht. Sei es bei Arzneimitteln, sei es bei Heilmitteln oder Behandlungen. Und: Alle Bürger können sich an dieses Institut wenden, wenn sie Hinweise darauf haben, dass eine bestimmte ärztliche Praxis gar nicht wirkt und sie meinen, das solle überprüft werden.

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