„Ich kann, ich will, ich muss“

Saarbrücken · Der einst weltbeste Handballer Joachim Deckarm ist ein imponierendes Beispiel dafür, wie tapfer Menschen mit einem schweren Schicksal umgehen können. Am Sonntag feiert der Saarbrücker seinen 60. Geburtstag.

 Joachim Deckarm kurz vor seinem 60. Geburtstag in seiner Wohnung beim Schach, einer Lieblingsbeschäftigung. Foto: Oliver Dietze

Joachim Deckarm kurz vor seinem 60. Geburtstag in seiner Wohnung beim Schach, einer Lieblingsbeschäftigung. Foto: Oliver Dietze

Foto: Oliver Dietze

Er spricht leise und langsam. Man versteht nicht jeden Satz sofort. Manchmal ist das Sprechen eine zu große Anstrengung für Joachim Deckarm. Manchmal allerdings versteht man ihn nicht, weil er nicht will, dass man ihn auf Anhieb versteht. "Ich bin zurzeit wunschlos glücklich", sagt Deckarm, hebt die Augenbrauen, macht ein ernstes Gesicht und ergänzt: "zurzeit!" Dann lächelt er und erklärt, dass das mit dem wunschlos in ein paar Stunden beim Nachmittagskaffee schon wieder anders aussehen könnte.

Es ist einer der kleinen Späße, die Joachim Deckarm immer wieder auf Lager hat. "Gute Stimmung ist das A und O", sagt der Mann, den sie hier meist nur "Chef" nennen: "Wir finden hier fast immer was zu lachen." Hier, das ist Deckarms Wohnung in der Dudweiler Straße in Saarbrücken, zwei Zimmer mit Bad, Blick auf den Beethovenplatz. Zwei Querstangen im Flur sorgen dafür, dass er nicht die Treppen runterfällt. Auf dem goldenen Pokal auf der Fensterbank liest man "Joachim Deckarm - Handballer des Jahrhunderts". Daneben steht eine Holzkiste mit der goldenen WM-Medaille von 1978.

Gerade sind Nicole Rosche da, seine große Unterstützung seit sechs Jahren, und Jan Hippchen, einer von zwei jungen Männern, die bei der Legende ein Freiwilliges Soziales Jahr verbringen. Um 7.30 Uhr geht's los. Wecken, aufstehen, waschen, dann Frühstück mit Müsli, Toast, Quark, Erdbeermarmelade. Meist hat Deckarm bis 21 Uhr Gesellschaft.

An diesem Sonntag wird Joachim Deckarm 60 Jahre alt. Es ist ein Wunder, dass er diesen Geburtstag feiern kann. 35 Jahre sind es jetzt schon, die vergangen sind seit jenem furchtbaren Frühlingstag, jenem 30. März 1979, der alles veränderte. Deckarm war damals einer der besten, viele sagen der beste Handballer der Welt. Ein Hüne, 1,93 Meter groß, ein Baum von einem Mann, niedergestürzt in der Blüte seiner Jahre, aufgeschlagen auf einen Betonboden in einer Sporthalle in Ungarn.

Die Hallenuhr zeigt 17.23 Uhr, als das Schicksal seinen Lauf nimmt. Deckarm, 25 Jahre alt und seit dem WM-Sieg ein Jahr zuvor der große Star des deutschen Handballs, sprintet Richtung Tor. Im Sprung will er den Ball annehmen, ein Gegenspieler auch, die Köpfe stoßen gegeneinander. Deckarm verliert das Bewusstsein und schlägt mit voller Wucht auf den nur mit einem dünnen PVC-Belag bedeckten Boden. Er bleibt regungslos liegen. Sein Mannschaftskamerad Heiner Brand, bis heute einer der besten Freunde und oft zu Besuch in Saarbrücken, erzählt später, wie er in der Kabine gesessen und geheult hat. Denn es gab auch das Gerücht, dass Deckarm schon tot sei.

Es ist ein Wunder, dass er überlebt. In der Halle gibt es keine Krankentrage, keinen Sanitäter, keinen Arzt. In der Klinik in Budapest lautet die Dia gnose doppelter Schädelbasisbruch, Quetschung des Haupthirns, Hirnhautriss. Die Chancen, dass Deckarm durchkommt, stehen nach einer mehrstündigen Operation 50 zu 50. Bis er aus dem Koma erwache, sagen die Ärzte, könne es Tage und Wochen dauern. Es dauert insgesamt 131 Tage. Fast viereinhalb Monate verbringt er zwischen Nichtleben und Nichtsterben.

Doch der Kämpfer hält durch. Als er aus dem Koma erwacht, ist nichts, wie es vorher war. Deckarm muss ganz von vorne beginnen, ohne jemals wieder dorthin zu gelangen, wo er als gesunder Mensch einmal war. Die mühevolle Rückeroberung der Vergangenheit vollzieht sich in winzigen Schritten. Er muss alles neu lernen, sprechen, essen. Acht Monate nach dem Unfall steht er zum ersten Mal ohne fremde Hilfe aus dem Bett auf. "Ich habe vor Freude kaum ein Wort hervorgebracht", sagt sein Vater damals.

Doch es bleibt bei winzigen Erfolgen. Die Mediziner erklären Deckarm zum hoffnungslosen Fall: "Keine weitere Therapie möglich." Erst sein alter Trainer Werner Hürter sieht das anders. "Als wir 1982 mit unserer Therapie angefangen haben", schreibt er später, "warst Du ein 1,93 Meter großes Baby im Alter von zwei Jahren, aufgeschwemmt auf fast 100 Kilo Körpergewicht." Vom Modellathleten zum Pflegefall - was für ein Drama.

Rund um seinen 60. wird jetzt überall wieder an Deckarm erinnert, auf RTL, in den Zeitungen, selbst die "Bunte" wollte ein Interview. Natürlich fragen jetzt alle auch nach Michael Schumacher. Als sie von dessen Ski- Unfall erfahren hatten, "haben wir viel geredet", sagt Nicole Rosche. "Man weiß nicht, was genau los ist mit ihm", sagt Deckarm. Seine Hände, regelrechte Pranken mit langen, dicken Fingern, zittern leicht. "Man kann sich noch nicht darüber auslassen." Nur so viel: "Hoffen ist das Einzige, was übrig bleibt."

Deckarm, der Kämpfer, hat die Hoffnung auf ein gutes Leben nie aufgegeben. "Ich kann, ich will, ich muss", wurde zu seinem Leitspruch. Er trainiert noch immer wie ein Weltmeister, geht schwimmen, klettern, dazu tägliches Treppensteigen, Gymnastik, Ergotherapie, Logopädie. Was sonst noch auf dem Programm steht? "Quatsch", sagt Deckarm und grinst.

Sein Schicksal bewegt die Menschen auch 35 Jahre nach dem Unfall. Gerade der Teil des Schicksals, den Deckarm selbst in die Hand genommen hat in seinem zweiten Leben. "Ich bewundere, was Sie und die Menschen aus Ihrem Umfeld alles erreicht haben und wie Sie Ihr neues Leben meistern und das voller Lebensfreude und positivem Denken. Durch Sie habe ich gelernt, auch die kleinen Erfolge zu schätzen", schreibt eine Frau im Gästebuch seiner Internetseite. An anderer Stelle heißt es dort: "Als aktiver Handballer waren Sie ein Vorbild für viele Hobby-Handballer wie mich. Was Sie allerdings in Ihrem zweiten Leben erreicht haben, macht Sie zu einem noch viel größeren Vorbild. Sich nie aufzugeben, immer weiter zu kämpfen, das sind die Dinge, mit denen Sie so vielen Menschen Mut gemacht haben."

Und was wünscht er sich nun zum 60. Geburtstag, dieser Joachim Deckarm, Kämpfer, Vorbild, Mutmacher? "Nix", sagt er leise: "Es kann so weitergehen."

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Auf einen BlickZu Ehren Joachim Deckarms findet am Sonntag in der Bank 1 Saar ein offizieller Empfang anlässlich des 60. Geburtstags statt. Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer wird ein Grußwort sprechen, den Festvortrag hält Deckarms alter Freund, Ex-Bundestrainer Heiner Brand. Zugleich wird in der Bank eine Ausstellung über die "Hall oft Fame des Deutschen Sports" eröffnet. In dieser Ruhmeshalle sind neben Sportlegenden wie Max Schmeling, Uwe Seeler und Rosi Mittermaier auch zwei Saarländer vertreten: Olympiasieger Armin Hary und eben Joachim Deckarm. Die Ausstellung in der Bank 1 Saar (Kaiserstraße Saarbrücken) kann bis Ende des Monats besichtigt werden. Der Jubilar wird nach Angaben der Bank täglich von 12 bis 14 Uhr anwesend sein und das Buch "Teamgeist - Die zwei Leben des Joachim Deckarm" signieren. red

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