Der Trugschluss vom "Viagra fürs Gehirn" "Die stimulierende Wirkung lässt relativ schnell nach"

München/Tutzing. In Aldous Huxleys Science-Fiction-Klassiker "Schöne neue Welt" nimmt man die Wunderdroge "Soma", wenn man sich einmal nicht bester Stimmung und topfit fühlt - und schon ist die Welt wieder in Ordnung. Anfänge einer solchen "Schönen neuen Welt" in der realen Leistungsgesellschaft nimmt jetzt die Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren (DHS) wahr

 Suchtgefahr: Viele Medikamente, die angeblich die Leistung steigern, machen abhängig. Foto: dpa

Suchtgefahr: Viele Medikamente, die angeblich die Leistung steigern, machen abhängig. Foto: dpa

München/Tutzing. In Aldous Huxleys Science-Fiction-Klassiker "Schöne neue Welt" nimmt man die Wunderdroge "Soma", wenn man sich einmal nicht bester Stimmung und topfit fühlt - und schon ist die Welt wieder in Ordnung. Anfänge einer solchen "Schönen neuen Welt" in der realen Leistungsgesellschaft nimmt jetzt die Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren (DHS) wahr.Noch ist das "Gehirndoping" in Europa offenbar nicht sehr verbreitet, sagt DHS-Geschäftsführer Raphael Gaßmann, aber die Bereitschaft dazu wachse. Im Vorfeld einer Fachtagung in Tutzing und vor dem Hintergrund von Erfahrungen aus den USA warnte Gaßmann: "Fang den Scheiß erst gar nicht an!"

Für die Suchtstelle ist die Einnahme von Medikamenten, um die Leistungsfähigkeit von gesunden Menschen zu steigern, "Missbrauch verschreibungspflichtiger Medikamente". Vor allem Schüler und Studenten scheinen zunehmend der Versuchung zu erliegen, durch die Einnahme von Pillen "noch den absurdesten Leistungsanforderungen gerecht zu werden", so Gaßmann.

Nach einer Umfrage aus dem Jahr 2010 stehen mehr als 80 Prozent der befragten Schüler und Studenten in Deutschland einer frei verfügbaren Pille, die Leistungssteigerung und Stimmungsaufhellung verspricht, positiv gegenüber. Kein Wunder, dass die Pharma-Industrie auf diesem Gebiet "sehr aktiv" ist und für die entsprechende Forschung geradezu "rote Teppiche" auslegt, wie der Leiter der Abteilung für Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung der Universität Bremen, Gerd Glaeske (Foto: dpa), beobachtet.

Doch auf eine legale Droge wie "Soma" wollen viele gar nicht warten. Dank Internet sind verschreibungspflichtige Medikamente relativ frei verfügbar. Unter den Leistungs-Junkies kursieren längst Listen von Medikamenten, die helfen sollen, sich in der immer härteren Leistungsgesellschaft einen Platz auf dem Treppchen zu sichern. Allen ist gemeinsam, dass sie nicht zum gewünschten Effekt führen, wohl aber sehr unangenehme Nebenwirkungen bis hin zur Abhängigkeit entfalten, warnt die DHS.

Besonders riskant ist nach Ansicht Glaeskes die Einnahme von Methylphenidat, besser bekannt unter dem Handelsnamen "Ritalin". Bei Gesunden führe Ritalin nicht zu Leistungssteigerung und besserer Stimmung, sondern eher zum Gegenteil, so Glaeske. Modafinil (Handelsname "Vigil") könne wie Methylphenidat zur Abhängigkeit führen. Beide Präparate sorgen dafür, dass sich die Leistungsfähigkeit von Menschen, die ohnehin über eine gute Ausgangsleistung verfügen, verschlechtert.

Die missbräuchliche Einnahme von Medikamenten zur Bekämpfung von Demenz und Depression bringt nach bisherigen Beobachtungen bei Gesunden nichts außer gelegentlichen Kopfschmerzen, Ruhelosigkeit und Übelkeit. "Es gibt keine belastbaren Ergebnisse, die zeigen, dass es funktioniert", fasst Gesundheitsforscher Glaeske zusammen.

Dennoch glauben immer mehr gestresste Studierende und Berufstätige, durch solche Medikamente noch besser und erfolgreicher funktionieren zu können. Vier bis fünf Prozent der Deutschen zwischen 20 und 50 greifen zumindest probeweise zum "Viagra fürs Gehirn", schätzt die DHS. Bei einer Umfrage des Wissenschaftsmagazins "Nature" stellte sich heraus, dass 20 Prozent der 1400 befragten Akademiker aus 60 Ländern mindestens schon einmal solche Arzneimittel ohne medizinische Indikation eingenommen haben. Das Problem ist freilich noch deutlich kleiner als die Medikamentenabhängigkeit durch Schlaf- und Beruhigungsmittel. Die DHS will verhindern, dass es zu einer neuen Sucht-Welle kommt. In Tutzing diskutieren bis Mittwoch etwa 100 Wissenschaftler über "Hirndoping - Lifestyle oder Suchtgefahr?". Am besten wäre es freilich, Schule, Ausbildung oder Beruf zu entschärfen, sollten die Menschen dadurch krank oder süchtig werden, meint DHS-Geschäftsführer Gaßmann.Herr Professor, Millionen gesunde Deutsche schlucken Pillen, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Können Sie das verstehen?

Maurer: Nein. Denn jedes Medikament hat Nebenwirkungen. Zwar sind mir etwa bei Ritalin keine schweren organischen Schäden bekannt. Doch immer droht auch eine psychische Abhängigkeit. Dazu kommt: Die stimulierende Wirkung lässt relativ schnell nach. Dann muss man die Dosis steigern und die Einnahmefrequenz erhöhen - bis es wirklich gefährlich wird.

Wie groß sind die Probleme?

Maurer: Wir reden gewiss nicht vom Untergang des Abendlandes, aber man sollte damit nicht leichtfertig umgehen. Die Aufklärung, die derzeit betrieben wird, dient auch dazu, Ärzte zu sensibilisieren. Es ist kein Geheimnis, dass Ritalin häufiger verschrieben wird, als es sein müsste. Beim Zappelphilipp-Syndrom ADHS ist es das beste Mittel - nach klarer Diagnose. So etwas einzunehmen, um leistungsfähiger zu werden, weil der Nachbar es auch nimmt und toll findet, ist nicht der richtige Weg.

Warum passiert es dennoch? Seit wann passiert es überhaupt?

Maurer: Dass Normalbürger zu solchen Mitteln greifen, ist ein Phänomen der letzten zehn Jahre. Ausgelöst auch durch die Veränderungen in der Arbeitswelt: Der Leistungsdruck ist gestiegen, man will mithalten, hat Angst um seinen Job. Doch auch das Lebensgefühl der Menschen ändert sich: Das Verhältnis zwischen Arbeit und reiner Erholung ist zum Teil aus dem Ruder gelaufen - bis hin zum Freizeitstress mit der ständigen Angst, was zu verpassen. Dabei spielen Internet und Handy eine große Rolle. Viele von uns haben verlernt, richtig abzuschalten. Viele meinen, sie müssten immer erreichbar sein. Und wenn der Körper sagt, dass es Zeit zum Abschalten ist, hilft man eben mit Medikamenten nach, um weitermachen zu können. "Es gibt keine belastbaren Ergebnisse, die zeigen, dass es funktioniert."

Gerd Glaeske, Gesundheits-

forscher der Universität Bremen

Hintergrund

Rund acht Prozent aller Europäer haben nach einer Studie im vergangenen Jahr Medikamente gegen Depressionen genommen. Besonders stark betroffen sei die Altersgruppe von 45 bis 54 Jahren. Darauf weist eine gestern in Bonn veröffentlichte Studie des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) hin, die auf der Befragung von 30 000 Europäern in 27 Ländern basiert. Am häufigsten greifen die Portugiesen zu Antidepressiva (16 Prozent), am seltensten die Griechen (3 Prozent). In Deutschland (5 Prozent) liegt der Verbrauch überraschenderweise unter dem EU-Durchschnitt, obwohl die Deutschen bei der Lebenszufriedenheit nur im unteren Mittelfeld rangieren. kna

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