Mulmiges Gefühl beim Gipfel

Brüssel · Trotz aller Bedenken: Die EU will den Flüchtlingspakt mit der Türkei. Beim EU-Gipfel zeigte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel „vorsichtig optimistisch“ für eine gemeinsame Lösung.

Die Skepsis war gestern Nachmittag in Brüssel mit Händen zu greifen. "Es liegt im Bereich der Möglichkeit", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel betont verklausuliert, "dass wir eine gemeinsame Lösung finden." Zehn Tage nach dem ersten Gipfeltreffen der 28 Staats- und Regierungschefs der EU mit der Türkei fand also nun die zweite Runde statt. Und irgendwie schien allen Staatenlenkern unwohl zu sein bei dem Gedanken, mit Ankara zu einem Deal in der Flüchtlingsfrage zu kommen. Am deutlichsten drückte das noch die litauische Präsidentin und frühere EU-Kommissarin Dalia Grybauskaité aus: "Ich verstehe und unterstütze einen Teil der Kritik. Denn ich denke, dass das vorgeschlagene Paket sehr kompliziert ist, die Umsetzung wird schwierig sein." Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann betonte, die "EU darf nichts über Bord werfen. Wir müssen der Türkei sagen, wo unsere roten Linien sind." Heute wird aus Ankara Premierminister Ahmet Davutoglu zum Gipfel stoßen.

Die EU ringt mit sich selbst, weil sie weiß, dass die Türkei als Partner schwierig und politisch umstritten ist. "Wer gegen eigene Minderheiten Krieg führt, darf sich nicht wundern, wenn man ihn befragt, ob er mit legalen und illegalen Flüchtlingen human umgeht", sagte ein hoher EU-Diplomat. "Ich bin trotz aller noch offenen Fragen behutsam optimistisch", meinte Merkel - und fügte hinzu, die Betonung liege auf "behutsam". Da dürfte sie schon geahnt haben, dass ihr Türkei-Plan wohl nicht vollständig aufgehen wird. Der Kompromiss, der sich gestern Abend abzeichnete, sieht so aus: Ankara nimmt ab einem Stichtag alle Flüchtlinge zurück, die über das Mittelmeer nach Griechenland fliehen. Im Tausch eins zu eins muss die EU Ankara einen syrischen Asylbewerber abnehmen: Zunächst sollen 18 000 verteilt werden - die Zahl steht schon in einem Beschluss vom Juli 2015. Dazu kommen weitere 54 000 aus einem ebenfalls beschlossenen, aber noch nicht genutzten Umsiedlungsprogramm. Doch anders als Merkel wollte, wird die Verteilung nicht nach einem festen Schlüssel erfolgen, sondern auf freiwilliger Basis. "Einige dürften wohl zunächst außen vor bleiben", hieß es mit Blick auf Ungarn, Tschechien, Rumänien, Bulgarien und die Slowakei. Doch was passiert, wenn das Kontingent ausgeschöpft ist? "Dann wird ein freiwilliges Aufnahmeprogramm der EU aktiviert", betonte die Kommission, von dem allerdings niemand weiß, wer welche Lasten trägt.

Die Türkei soll sich verpflichten, die Menschen entsprechend internationaler Verpflichtungen zu behandeln und vor allem nicht einfach in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken, wo ihnen unter Umständen Gefahr droht. Dass Ankara in dieser Frage ein Risiko sieht, weil die Türkei auf den Hilfesuchenden sitzen bleiben würde, könnte Davutoglu ins Grübeln bringen.

Meinung:

Das kleinere Übel

Von SZ-KorrespondentDetlef Drewes

Europa tut sich schwer. Zumindest am ersten Tag des EU-Gipfels gab es niemanden, der aus vollem Herzen das Paket mit der Türkei gutgeheißen hätte. Zu groß sind nicht nur die komplizierten Detailfragen, sondern auch die Beklemmungen, ob der umstrittene Präsident Recep Tayyip Erdogan wirklich ein Partner für die EU sein kann, der seinen Teil der Abmachungen entsprechend den geltenden humanitären Standards abwickelt. Doch die Gemeinschaft brauchte einen Plan B, nachdem sich in den immer zerstritteneren Gipfelrunden herausgestellt hatte, dass eine solidarische Lösung innerhalb der Union nicht möglich war. Vielleicht ist dieses Einbinden Ankaras deswegen kein idealer Weg, aber das kleinere Übel.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort