Nach der Europawahl Die See wird rauer für Europas Zukunftsbauer

Brüssel · Pro Jahr fehlen rund zwölf Milliarden Euro, wenn die Briten die EU verlassen. Aber das ist nur eine der Herausforderungen, die nach der Wahl warten.

 Frontex-Mitarbeiter auf dem Deutschen Schiff „Minden“ retten 2016 Flüchtlinge vor Lesbos. Die EU will die Grenzschutzagentur ausbauen. Doch die Bereitschaft der Mitgliedstaaten ist gering, dafür mehr Geld auszugeben.

Frontex-Mitarbeiter auf dem Deutschen Schiff „Minden“ retten 2016 Flüchtlinge vor Lesbos. Die EU will die Grenzschutzagentur ausbauen. Doch die Bereitschaft der Mitgliedstaaten ist gering, dafür mehr Geld auszugeben.

Foto: dpa/Str/epa

An diesem Morgen nach der Wahl beginnt Europas Zukunft. Wochenlang haben sich die Bürger der 28 Mitgliedstaaten von den Kandidaten angehört, dass es um eine Schicksalswahl ging. Übertrieben war das nicht. Die Europäische Union ringt – mit sich selbst und um ihren Platz in der Welt. Auf Schritt und Tritt begegnet der Gemeinschaft die bittere Realität des Brexit, der zwar noch nicht vollzogen und auch noch nicht aus dem Entwurfsstatus herausgekommen ist. Doch er prägt einen Streit, der in den kommenden Wochen erst richtig ausbrechen dürfte:

Wie viel Geld hat die EU für welche Aufgaben in der nächsten Finanzperiode ab 2021 zur Verfügung? Denn pro Jahr fehlen rund zwölf Milliarden Euro, wenn die Briten nicht mehr zahlen. Eine Billion Euro hat Haushaltskommissar Günther Oettinger angesetzt, das nunmehr abgewählte EU-Parlament will noch mehr, um das Jugendprogramm Erasmus+ nicht nur für Studenten, sondern auch für noch mehr Azubis, Schüler und Lehrer zu öffnen. Der geplante Außengrenzschutz mit der Ausweitung der Frontex-Agentur wird auf 45 Milliarden Euro (in sieben Jahren) geschätzt, Die Forschungspolitiker wollen für das neue Horizon Europe-Projekt über 100 Milliarden – unter anderem, um den Krebs bei Kindern regelrecht auszurotten.

Doch die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, mehr als ein gutes Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes locker zu machen, ist gering. Außer Deutschland gibt es nur eine wackelige Zusage aus Luxemburg. Die Niederlande und Österreich mauern sogar strikt. Und die Frage, wie zusätzlich ein eigenes Budget für den Euro-Raum finanziert werden soll, ist ebenfalls unbeantwortet. Dabei hängt vom Geld ab, ob Europa so effizient werden kann, wie die Bürger das gerne wollen. Mit einer Einigung sei wohl erst Ende 2020 zu rechnen, heißt es in Brüssel. Finnland, das am 1. Juli die halbjährlich wechselnde Ratspräsidentschaft übernimmt, gilt als nicht stark genug, um eine Einigung zu erreichen. Auch Kroatien nicht, das am 1. Januar 2020 antritt. Erst am 1. Juli nächsten Jahres ist wieder ein starkes Land am Ruder: Deutschland.

Dabei hat die Gemeinschaft eigentlich keine Zeit zu verlieren, um geschlossen ihr Gewicht auf die globale Waagschale zu werfen. Zwischen den drei so unterschiedlichen Großmächten USA, Russland und China braucht die EU ihren Platz. Wie der Handelskrieg zwischen Was­hington und Peking weitergeht, ist höchst unklar. Ob die Union da hineingezogen wird, auch. Das Verhältnis zu Moskau muss normalisiert werden, ein Ende der Sanktionen erscheint nötig, schon um die befürchteten konjunkturellen Probleme der kommenden Jahre aufzufangen. Und um gemeinsam an einer Sicherheitsarchitektur zu bauen, die die Europäer (nicht nur) nach massivem Druck der USA brauchen.

Intern braucht die Gemeinschaft so etwas wie einen neuen Konsens auf ihre demokratischen und rechtstaatlichen Grundsätze. Dass man Ungarn unter Viktor Orbán derzeit nicht einfangen kann, scheint absehbar. Aber in Brüssel hofft man darauf, dass sich Polen, Tschechen und Slowaken sowie Rumänen überzeugen lassen, auf den Pfad der europäischen Tugenden zurückzukehren. So lange das nicht der Fall ist, werde es auch keine Erweiterungsrunden geben können, hört man aus der Kommission. Diese sind aber notwendig, um den Balkan bei Laune zu halten. Serbien steht praktisch EU-reif vor der Türe. Andere wie Montenegro, Albanien und Mazedonien warten ebenfalls. Für das Kosovo muss ein politischer Status neben Serbien gefunden werden. Doch die Europäische Union kann sich keine neuen Konflikte noch junger Demokratien aufhalsen, wenn es an ihrer Ostflanke ohnehin demokratisch unreif zugeht.

Zugleich sucht Europa seinen wirtschaftspolitischen Kurs in der immer schärfer werdenden Konkurrenz der aufstrebenden Staaten wie Indien oder Brasilien. Für Afrika braucht man eine Lösung, nicht nur um die Fluchtursachen zu bekämpfen, sondern auch um neue Partner zu haben. Alleine diese Aufgabe fordert mehr Kraft als derzeit vorhanden – vor allem, weil die Situation auf dem Schwarzen Kontinent je nach Land völlig unterschiedlich ist.

Und dann sind da noch die eigenen Herausforderungen wie der Klimaschutz. Ein hochrangiges Kommissionsmitglied brachte das wenige Wochen vor der Wahl auf den Punkt: „Erst 2024 wird wieder gewählt. Bis dahin muss die EU beispielsweise die Emissionsgrenzwerte für alle jene Fahrzeuge festgeschrieben haben, die 2040 auf den Markt kommen. Mit anderen Worten: Europa entscheidet in den nächsten fünf Jahren, wie unsere Welt in 20 Jahren aussieht.“ Es wird tatsächlich eine entscheidende Phase.

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