Ein bisschen Frieden für alle

Eine Auszeichnung für 27 Staaten und 500 Millionen Menschen - das ist selbst in der Geschichte des Nobelpreises einzigartig. "Als ich heute früh aufwachte, rechnete ich nicht damit, dass dies ein so guter Tag werden würde", ließ Kommissionspräsident José Manuel Barroso seinen Emotionen freien Lauf

 27 Staaten, 500 Millionen Menschen, ein Preis: Die Europäische Union erhält als Gemeinschaft den Friedensnobelpreis 2012. Foto: Pietruszka/dpa

27 Staaten, 500 Millionen Menschen, ein Preis: Die Europäische Union erhält als Gemeinschaft den Friedensnobelpreis 2012. Foto: Pietruszka/dpa

Eine Auszeichnung für 27 Staaten und 500 Millionen Menschen - das ist selbst in der Geschichte des Nobelpreises einzigartig. "Als ich heute früh aufwachte, rechnete ich nicht damit, dass dies ein so guter Tag werden würde", ließ Kommissionspräsident José Manuel Barroso seinen Emotionen freien Lauf. Eine "unglaubliche Ehre", jubelte der sonst so verhaltene EU-Präsident Herman Van Rompuy über die geehrte Union. "Wir sind Nobelpreis", triumphierte der FDP-Europa-Politiker Alexander Graf Lambsdorff.Mitten in ihrer sicher schwersten Krise wurde die EU von dieser Auszeichnung überrascht. "Sechs Jahrzehnte Frieden" waren für das Preiskomitee Grund genug, die Auszeichnung aus dem Nicht-EU-Land Norwegen nach Brüssel zu schicken. Dabei ging es am Anfang in Europa weniger um Frieden, als vielmehr darum, einen neuen Krieg unmöglich zu machen. Der berühmte Plan des französischen Außenministers Robert Schuman sah nämlich vor, die für die Rüstung zentralen Wirtschaftszweige Kohle und Stahl zu vergemeinschaften und unter die Oberaufsicht einer Verwaltungsbehörde zu stellen, die er Kommission nannte. Diese Montanunion war ein Kind des Krieges und schlug sich schon wenig später mit den gleichen Fragen herum, die noch heute die Diskussion beherrschen: Wie viel Macht soll die EU haben? Wie viele Kompetenzen können die Mitgliedstaaten abgeben? Im Zeichen des Hungers nach dem Krieg entstand schnell die nächste Idee: Auch die Landwirtschaft sollte europäisch werden, um alle Menschen versorgen zu können. 1957 schufen die Römischen Verträge die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die 1992 mit der Einführung des Binnenmarktes zur EU mutierte. Nach dem Zusammenbruch des Ost-West-Konfliktes drängten die einstigen Warschauer-Pakt-Staaten nach Westeuropa und in die Union. 2004 wuchs die Familie auf 27 an - ein gemeinsamer Markt mit 500 Millionen Verbrauchern.

Offene Grenzen und gemeinsamer Handel wurden zur Triebfeder der modernen EU. Heute exportiert die Bundesrepublik rund 63 Prozent ihrer Ausfuhren in benachbarte EU-Länder, jeder sechste deutsche Arbeitsplatz ist vom Binnenmarkt abhängig. Fünf Milliarden Euro überweist Brüssel noch heute jedes Jahr an die Bundesrepublik, um Firmenansiedlungen, Tourismus oder Umweltprojekte zu fördern sowie die Infrastruktur zu verbessern. Allein die Harmonisierung der unterschiedlichen Vorschriften für Güter und Produktgruppen erspart den deutschen Betrieben pro Jahr zu 50 Milliarden Euro. Eine Erfolgsgeschichte.

Dabei blieb die EU immer ein Friedensprojekt. "Wer an Europa zweifelt, sollte öfter Soldatenfriedhöfe besuchen", lautet ein berühmter Satz des luxemburgischen Premierministers und Euro-Gruppen-Chefs, Jean-Claude Juncker. Denn die Union hat sich längst auch auf der Weltbühne als gewichtige Größe einen Namen gemacht. Im Nahost-Quartett sitzen die Europäer gemeinsam mit Russland und den USA neben den Vertretern der UN. Im Atomkonflikt mit dem Iran hat Brüssel nicht nur mit Teheran gerungen, sondern auch mit jenen Scharfmachern, die auf eine bewaffnete Intervention drängten. Europa ist heute der größte Zahler von Entwicklungshilfe für Afrika und Lateinamerika. Einige Staaten konnten im Laufe der Jahre so sehr aufgebaut werden, dass man das Land von der Liste derer streichen konnte, denen man zur Entwicklung eines eigenen Marktes besondere Wirtschaftsbedingungen eingeräumt hatte.

Europa als Friedensmodell für die Welt hat außerhalb der Grenzen durchaus Konjunktur. Während im Inneren über den Euro und seine Stabilität gestritten wird, leihen sich immer mehr Regionen von der Kommission deren Experten für eine Gemeinschaftswährung aus, um eine Art Asia-Euro zu installieren. Die Afrikanische Union gilt als Kopie der EU auf dem schwarzen Kontinent. In der Umweltpolitik darf sich Europa als weltweiter Vorreiter fühlen.

Dass die hohen Vertreter des norwegischen Preiskomitees im Lichte der EU-Ehrung selbst ins Nachdenken über die bisherige Rolle außerhalb der Gemeinschaft kamen, liegt da fast schon auf der Hand. "Man kann sehr wohl die norwegische EU-Nicht-Mitgliedschaft infrage stellen", sagte der 61-jährige Osloer Sozialdemokrat Thorbjörn Jagland am Freitag nach der Verkündung der Entscheidung zugunsten der EU. Am 10. Dezember hätte Regierungschef Jens Stoltenberg eine gute Gelegenheit, entsprechende Gespräche zu führen. Dann werden Kommissionspräsident José Manuel Barroso und EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy ohnehin in Oslo weilen, um stolz den Friedensnobelpreis 2012 entgegenzunehmen.

Hintergrund

Der Friedensnobelpreis ist ein der bedeutendsten Auszeichnungen der Welt. Doch geraten ihre Preisträger schnell aus dem Blickfeld. Geehrt wurden in den vergangenen Jahren:

2003: Schirin Ebadi, eine Menschenrechtlerin aus dem Iran

2004: Wangari Maathai, eine kenianische Umweltschützerin

2005: die Internationale Atomenergie-Organisation und deren damaliger Generaldirektor Mohammed el Baradei (Ägypten)

2006: Muhammad Yunus, Wirtschaftsexperte aus Bangladesh

2007: der UN-Klimarat und Al Gore (USA)

2008: Martti Athisaari, Friedensvermittler (Finnland)

2009: Barack Obama, amtierender US-Präsident

2010: Liu Xiaobo, Chinas prominentester Menschenrechtler

 27 Staaten, 500 Millionen Menschen, ein Preis: Die Europäische Union erhält als Gemeinschaft den Friedensnobelpreis 2012. Foto: Pietruszka/dpa

27 Staaten, 500 Millionen Menschen, ein Preis: Die Europäische Union erhält als Gemeinschaft den Friedensnobelpreis 2012. Foto: Pietruszka/dpa

2011: die Frauenrechtlerinnen Ellen Johnson-Sirleaf, Leymah Gbowee (beide Liberia) und Tawakkul Karman (Jemen) red

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