Vom Flucht-Reflex der politischen Klasse

Saarbrücken. Horst Köhlers hastiger Rücktritt als Bundespräsident wird schon deshalb tiefe psychologische Spuren im Bewusstsein der Bevölkerung hinterlassen, weil er ein grelles Licht auf die innere Verfasstheit der politischen Klasse in Deutschland wirft

Saarbrücken. Horst Köhlers hastiger Rücktritt als Bundespräsident wird schon deshalb tiefe psychologische Spuren im Bewusstsein der Bevölkerung hinterlassen, weil er ein grelles Licht auf die innere Verfasstheit der politischen Klasse in Deutschland wirft. Ausgerechnet Persönlichkeiten, an denen sich die Bürger orientieren, weil deren Weg an die Spitze des Staates und der Gesellschaft Klugheit, Energie und seelische Stabilität vermuten lässt, und die sich zudem selbst gern als Vorbilder verstehen, neigen in zunehmendem Maße zu resignativem Verhalten und folgen ihren Flucht-Reflexen. Köhler ist gewiss der prominenteste, aber wohl nicht der letzte Aussteiger, der seine Verantwortung nicht mehr tragen wollte. Durch die überraschende "Fahnenflucht" des Präsidenten, die in den Medien zu Recht scharf kritisiert wird, gerät selbst der hämisch beurteilte Rücktritt des früheren SPD-Vorsitzenden und Bundesfinanzministers Oskar Lafontaine in ein neues Licht. Niemand hatte damals ein gutes Haar an der Kurzschluss-Handlung des Saarländers gelassen, die Verständnislosigkeit über das "Wegwerfen" solch wichtiger Ämter, über das schmähliche "Im-Stich-Lassen" der Bürger und Parteifreunde füllte die Gazetten. Auch Lafontaine konnte, wie heute Köhler, den eigentlichen Grund seines Rücktritts nicht hinreichend erklären. Es blieb beim hilflosen Versuch ("Das schlechte Mannschaftsspiel war schuld"). Der innere Drang, sich aus einer scheinbar ausweglosen Situation zu befreien, war nicht vermittelbar. Am empfindlichsten reagierte damals übrigens das ehrpusselige und pflichtbewusste SPD-Urgestein Hans-Jochen Vogel. Für ihn ist Flucht vor der Verantwortung mit dem Verlust der persönlichen Würde verbunden. Ob Vogel über den ihm eigentlich wesensverwandten Köhler heute ähnlich streng urteilen würde?Gewiss, jeder hat mal Lust, die Brocken hinzuschmeißen. Jeder sehnt sich mal danach, berufliche, familiäre, gesellschaftliche oder kulturelle Fesseln abzuwerfen und Zwängen zu entfliehen. Das ist menschlich, weil es normal ist, Druck zu ventilieren. Insofern stoßen Spontan-Reaktionen in der Bevölkerung auch ein Stück weit auf Verständnis. Dieses leise Verständnis wandelt sich indes in lauten Zorn, wenn die Erklärungsmuster nicht nachvollziehbar sind. Und tatsächlich können sich Großkopferte, im Gegensatz zum Normalbürger, eben erlauben, den Bettel hinzuschmeißen: Sie sind finanziell abgesichert. Wie Horst Köhler, dem lebenslang der Ehrensold in Höhe des Amtsgehalts (plus Büro, Personal, Dienstwagen) zusteht. In einer Zeit, in der Hartz-IV-Empfänger wegen ein paar Euro dauerhaft am Schmarotzer-Pranger stehen, ist das ein erstaunliches Privileg mit dem Aroma eines antiquierten Feudalismus.Auch so ehrenwerte Herrschaften wie Friedrich Merz, hochgelobt als politisches Naturtalent, oder Roland Koch, der jetzt in die Wirtschaft wechselt, weil er keine politischen Karriere-Chancen mehr sieht, sind Aussteiger, die Irritationen auslösen. Sie erwecken den fatalen Eindruck, ein öffentliches Amt sei nur so lange interessant, wie sich persönlicher Nutzen daraus ziehen lässt. Zur gleichen Kategorie zählt Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust, der angeblich auch keine Lust mehr hat, die Bürde des Amtes zu tragen. Schleichend wird so die Krise der politischen Klasse zur Krise des demokratischen Systems, dem die Bürger zunehmend misstrauen. Wer selbst so schnell loslässt wie die politischen Aussteiger, darf nicht darüber klagen, dass die Bindungskräfte zwischen Bürgern und Parteien immer mehr nachlassen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Den überraschenden Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler quittieren auch viele ausländische Zeitungen mit Verwunderung - und deutlicher Kritik. So schreibt das in Wien erscheinende Blatt "Die Presse": Der große Bonus des einstigen IWF-Chefs war auch
Den überraschenden Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler quittieren auch viele ausländische Zeitungen mit Verwunderung - und deutlicher Kritik. So schreibt das in Wien erscheinende Blatt "Die Presse": Der große Bonus des einstigen IWF-Chefs war auch
Zum überraschenden Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler findet die "Freie Presse" aus Chemnitz deutliche Worte: Horst Köhler begeht Fahnenflucht, nur weil ihm angeblich der Respekt versagt wurde. Als Bundespräsident hätte er die Möglichkeit gehabt,
Zum überraschenden Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler findet die "Freie Presse" aus Chemnitz deutliche Worte: Horst Köhler begeht Fahnenflucht, nur weil ihm angeblich der Respekt versagt wurde. Als Bundespräsident hätte er die Möglichkeit gehabt,