Moskaus Reaktion im Fall Nawalny Höchste Zeit für eine klare Abgrenzung von Russland

Der Kreml greift im Fall Nawalny auf oft erprobte Verfahren zurück. Wenn es eng wird im Ringen um die Deutungshoheit, weist die russische Führung in einem ersten Schritt alle Verantwortung weit von sich.

 Ulrich Krökel

Ulrich Krökel

Foto: SZ/Robby Lorenz

Sodann werden Zweifel an den Fakten gesät. So war es nach dem Giftanschlag auf den russischen Ex-Agenten Sergei Skripal 2018 in England oder nach dem Abschuss eines malaysischen Passagierjets über der Ostukraine 2014 (Flug MH 17). In beiden Fällen führten bestens belegte Spuren direkt zum russischen Militär und dem Auslandsgeheimdienst GRU. So weit sind die Ermittlungen im Fall des vergifteten Regimekritikers Alexej Nawalny noch nicht gediehen. Aber der Nachweis, dass bei dem Anschlag auf den wichtigsten innenpolitischen Widersacher von Präsident Wladimir Putin der Nervenkampfstoff Nowitschok zum Einsatz kam, löst im Kreml die üblichen Reflexe aus. Entsetzen und Erschütterung? Absolute Fehlanzeige. Stattdessen hagelt es abstruse Forderungen: Die deutsche Seite müsse endlich kooperieren und alle Beweise vorlegen. Oder könne man das etwa nicht, weil Nawalny in Deutschland vergiftet wurde? Im Übrigen gebe es nur haltlose Verdächtigungen mit dem Ziel, Russland international zu diskreditieren. Der Ruf allerdings ist längst ruiniert, und da lebt es sich sprichwörtlich „ganz ungeniert“. Mehr noch: Der Verdacht, dass der Kreml selbst den Giftanschlag auf Nawalny befohlen hat, drängt sich mit einer solchen Wucht auf, dass man daraus nur auf eine bewusste, „ungenierte“ Demonstration von Macht und Gewaltbereitschaft schließen kann. Dass es sich dabei um eine Art postsowjetisches Muster handelt, zeigt sich derzeit in Belarus, wo Diktator Lukaschenko die Brutalität seines Regimes immer wieder gezielt vorführt. Das richtige Wort dafür lautet: Staatsterror.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diesem Terror in ihrer Stellungnahme zum Fall Nawalny zu Recht die „Grundwerte und Grundrechte“ entgegengestellt, für die Deutschland eintrete. Sie scheint auch erkannt zu haben, dass der Graben, der das demokratische deutsche vom postsowjetischen russischen Weltverständnis trennt, viel zu breit geworden ist, um ihn noch mit einem Dialog überbrücken zu können. Allzu lange haben Deutschland und die EU an der Idee von einer strategischen Partnerschaft mit Russland festgehalten. Es ist allerhöchste Zeit, zu den Prinzipien einer (möglichst friedlichen) Koexistenz überzugehen und damit zu klarer Abgrenzung.

Das heißt aber auch, dass man sich eigener Einflussmöglichkeiten beraubt. Allerdings ist die Hoffnung auf einen innerrussischen Wandel durch Handel und Dialog inzwischen derart geschrumpft, dass man bei einer strategischen Neuausrichtung nicht mehr viel zu verlieren hat. Doch wird mit jedem neuen Mord, Giftanschlag oder polizeilichen Gewaltexzess auch deutlicher, dass Putin und Lukaschenko ihren Landsleuten keine positive Perspektive zu bieten haben. Ohne eine echte Zukunftsidee ist jedoch kein moderner Staat zu machen. Das Beste, was die EU in dieser Lage tun kann, ist daher: die eigene Idee stärken.

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