Leitartikel Der Impf-Nationalismus – und die Fehler der EU

Eigentlich wollten die EU-Mitgliedstaaten genau diesen Impfstoff-Nationalismus verhindern, der inzwischen außerhalb der Gemeinschaft ausgebrochen ist. Diese Schlacht um die Vakzine ist schwer zu ertragen, zumal es sich bei den meisten Entwicklungen um Produkte aus der europäischen Forschung handelt, die in nicht wenigen Fällen auch mit Geldern der EU finanziert wurde.

Sogar die Aufrüstung der Produktionsstätten hat Brüssel bezahlt. Zu einem Fiasko wird diese Situation erst durch die Geschäftspraxis einiger Konzerne, die offenbar schon bei der Vertragsunterzeichnung geschummelt haben. Pfizer wusste, dass man den US-Markt zuerst beliefern muss. Astrazeneca kannte den Druck der britischen Regierung. Und die Entscheider in Brüssel, zu denen nicht nur die EU-Kommission, sondern auch alle Mitgliedstaaten gehörten, standen vor einer fast schon lebensgefährlichen Lotterie, da niemand wissen konnte, welcher Impfstoff am Ende wie wirken würde und vor allem, ab wann er in welchen Mengen zu haben sein würde. Dass sich diese Unwägbarkeiten nun als Fehler herausstellen und zusätzlich durch Verteilungsprobleme und schwere Versäumnisse auf der Ebene der Mitgliedstaaten verschärfen, kommt hinzu. Die Verantwortung liegt auf vielen Schultern.

Aber es erscheint vor diesem Hintergrund fast zynisch, dass sich Bürger immer wieder wohlklingende Versprechungen anhören müssen, deren Glaubwürdigkeit mit jedem Tag mehr schwindet. Erst vor wenigen Tagen hat die EU-Kommission die Mitgliedsländer aufgefordert, bis Ende März 80 Prozent aller über 80-Jährigen und 70 Prozent aller Erwachsenen bis zum Sommer zu impfen. Der Bundesgesundheitsminister bleibt bei seiner Zusage, bis zum Beginn des dritten Quartals allen Bundesbürgern ein Impfangebot machen zu können. Jeder ahnt längst, dass diese Ziele nicht mehr erreichbar sind. Das sorgt für Frust und Vertrauensverlust. Was nun notwendig wäre, ist strikte Transparenz. Die Menschen sind bereit, Beschränkungen zu ertragen, wenn sie das Gefühl haben, sie werden als ehrliche Partner mitgenommen, anstatt für dumm verkauft zu werden.

Dennoch braucht die EU jetzt einen harten Kurs gegenüber den Pharma-Konzernen, die sich aus der eingegangenen Verantwortung durch Lieferkürzungen herausstehlen wollen. Dass Brüssel am Montag Exportverbote für Impfstoffe, die innerhalb der EU hergestellt wurden, angekündigt hat, ist die Konsequenz. Die wollte zwar niemand, aber dies erscheint als derzeit einziges Instrument, um die Unternehmen zur Vertragserfüllung zu zwingen. Der EU wird langsam bewusst, dass Pharmakonzerne in einer weltweiten Pandemie nur begrenzt vertrauenswürdige Partner sind. Und dass Regierungen außerhalb der europäischen Familie im Ernstfall auf Solidarität pfeifen, wenn sie dafür mehr Vakzine für die eigene Bevölkerung an Land ziehen können. Dagegen muss sich Brüssel schützen. Es geht nicht darum, anderen die lebenswichtigen Impfstoffe wegzunehmen. Aber es geht sehr wohl darum, sicherzustellen, dass er auch die Menschen in der EU erreicht.

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