Vom Urknall zu den Glühwürmchen

Saarbrücken · Durch das Brennglas seiner Poesie bündelt der Schriftsteller Raoul Schrott das wissenschaftliche Wissen unserer Zeit. In dem monumentalen Werk „Erste Erde“ nimmt er die Leser mit auf eine vertrackte Reise um den Erdball.

Das Motiv auf dem Cover gibt Rätsel auf - eine gelbe Wolke, die in einen kristallinen, weißen Innnenraum zu dringen scheint - es ist ein Honigachat unter dem Mikroskop, benannt nach dem antiken Fundort im sizilianischen Fluss Achates, informiert die Legende. Vor zig tausend Jahren ist Wasser in die La-vablase eingedrungen und hat dort weiße Quarze und gelbe Kalzite abgelagert, die den schon seit der Antike begehrten Honigachat entstehen ließen.

Auf das Buch übertragen, ließen sich die schillernden Ablagerungen wie die Überbleibsel der ersten Welt lesen, die der österreichische Autor Raoul Schrott in seinem Epos freilegt, um das Menschsein dort zu verorten, wo es ursprünglich herkommt. "Nie zuvor gab es so viel an Wissen über den Menschen und das Universum - doch je mehr Daten und Details angehäuft werden, desto weniger verstehen wir im Grunde. Wir wissen zwar, dass die alten Mythen nicht mehr stimmig sind - eine andere Geschichte, die uns die Welt erklärt, gibt es jedoch nicht", konstatiert Schrott. Und begründet so sein Vorhaben, diese Wissensfülle in einem zeitgemäßen, verständlichen Narrativ aufzubereiten. Dafür gewährt er dem Leser zwei Zugänge: zum einen den 250 Seiten langen Erklärungsteil, in dem gerafft das als gesichert geltende Wissen bis zum Abschluss des Buches im Juni 2016 dargelegt ist. Zum anderen den 680 Seiten starken Hauptteil aus sieben Büchern, in denen der Autor, konsequent kleinschreibend, die Geschichte vom Urknall bis zur Menschheitsgeschichte poetisiert.

Obwohl Schrott multiperspektivisch erzählt - mal radikal subjektiv wie Augustinus in den "Confessiones", dann wiederum aus der Perspektive eines Forschers - und dabei von lyrisch bis episch glanzvoll die Sprachregister zieht, liest sich das Großkapitel wie ein zusammenhängendes Langgedicht. Bereits im ersten Kapitel über den letzten Weltschöpfungsmythos, den die Maoris 1850 mündlich hervorbrachten, gelingt Schrott eine poetische Verdichtung von Mythos und Naturbeobachtung: "im anfang war nichts te kore das vollkommene nichts te kore das nichts in dem nichts bestand te whinwia te kore ein nichts te rawea in dem nichts geschah." So heißt es dort eingangs, bevor sich der Erzähler in die Karsthöhlen bei Waitomo abseilt, um in den unwirklichen Kavernen die unterirdischen Universen der dort leuchtenden Glühwürmchen zu erblicken. Immer wieder sind es solche Singualaritäten, die Schrott aufgreift und poetisiert, um sich und die Leser in ein demütiges Staunen zu versetzen. Schrotts paradoxales Oszillieren zwischen dem zivilisatorischen Eigenen und dem natürlichen Fremden öffnet neue Denkräume. Dass der Autor - gefördert von der Kulturtiftung des Bundes - sieben Jahre an seinem Werk gearbeitet hat, verwundert kaum. Schrott liefert einen großartigen Beitrag dazu, die Welt und das Leben - den Tod und die Liebe - zu begreifen und dabei die Welt für sich sprechen zu lassen.

Raoul Schrott: Erste Erde. Epos. Hanser, 848 Seiten, 68 Euro. Raoul Schrott liest heute Abend ab 20 Uhr im Saarbrücker Filmhaus auf Einladung der Heinrich- Böll-Stiftung Saar in Zusammenarbeit mit Ludwig Hofstätter und SR2 KulturRadio.

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