Seide, Öl und die weltweiten Folgen

Saarbrücken · Der in Oxford lehrende britische Historiker Peter Frankopan arbeitet in seiner „Neuen Geschichte der Welt“ die im Westen vielfach unterbelichtete, Jahrtausende lang maßgebliche Bedeutung des Orients heraus. Erst im Gefolge Kolumbus' verschob sich das Gravitationszentrum von Ost nach West.

 Über Jahrhunderte hinweg war der asiatische Raum der Nabel der Welt. Die Pracht seiner Kultur ist bis heute zu sehen. Unser Foto zeigt eine Islamschule in Samarkand im heutigen Usbekistan. Foto: Fololia

Über Jahrhunderte hinweg war der asiatische Raum der Nabel der Welt. Die Pracht seiner Kultur ist bis heute zu sehen. Unser Foto zeigt eine Islamschule in Samarkand im heutigen Usbekistan. Foto: Fololia

Foto: Fololia

Oxford, Cambridge, Harvard und Yale, Geisteszentren heute, lagen vor tausend Jahren quasi in Bagdad, Kabul und Samarkand. Erst die großen See-Expeditionen am Ende des 15. Jahrhunderts verschoben den Mittelpunkt der Welt von Ost nach West. Zuvor lag Westeuropa 2000 Jahre lang im Schatten des asiatischen Kontinents, der sich vom östlichen Mittelmeer bzw. vom Schwarzen Meer bis zum Himalaya erstreckte. In dieser heute zum Spielball westlicher Wirtschafts- und Militärinteressen gewordenen Weltregion entstanden alle Weltreligionen (Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus), genährt von alten Kulturen.

Daran erinnert nun eine groß angelegte, 2000 Jahre umspannende Weltgeschichte des Leiters des Oxforder Zentrums für Byzantinische Studien, Peter Frankopan, die im Kern eines zu sein beansprucht: eine nicht-eurozentristische, historische Gesamtdarstellung. Diesen immensen Anspruch vermag Frankopans brillant erzählter 940-Seiten-Wälzer schon deshalb nicht einzulösen, weil er einige Weltgebiete (Afrika und Lateinamerika, meist auch China) ausblendet und er überdies das jüngste halbe Jahrtausend, von Kolumbus bis Obama gewissermaßen, nur bruchstückhaft abhandeln kann. Gleichwohl ist diese Studie mit viel Gewinn zu lesen. Zum einen zeichnet sie im ersten Drittel kenntnisreich und plausibel die reiche kulturgeschichtliche Bedeutung des arabischen und asiatischen Raums für die gesamte jüngere Geschichte nach. Zum anderen legt sie im Fortgang den Finger in eine bis heute klaffende Wunde: die von westlichen Handelsmächten seit dem 16. Jahrhundert bis heute praktizierte Instrumentalisierung, ja Ausbeutung dieser Weltregion.

Frankopans Zeitepos entpuppt sich insoweit als kritische Wirtschaftsgeschichte: Weckten dereinst Seide und Gewürze Europas Interesse, so später Öl und Gas. Eine Leitidee des Buches lautet dabei: Europas heutige Überlegenheit, gemeinhin mit der Renaissance verbunden, verdankt sich letztlich der Militärtechnik, die in innereuropäischen Kriegen zu Beginn der Neuzeit revolutioniert wurde.

Globalisierung einst und heute

Als Alexander der Große im vierten Jahrhundert v. Chr. zu seinen Eroberungen ansetzte, fiel sein Blick nicht von ungefähr auf Persien: Beute und Prestige war nur im Osten zu gewinnen, Europa lag im Dämmerschlaf. Im Gefolge Alexanders mischten sich kulturelle Einflüsse des alten Griechenlands mit denen Persien, Indiens, Zentralasiens und Chinas. Über die alten Handelsrouten, deren wichtigste die Seidenstraße war, verbreiteten sich Wissen, Glauben und Tradition. "Wir halten Globalisierung für ein modernes Phänomen", schreibt Frankopan, "aber schon vor 2000 Jahren war sie Realität." Erst mit den Römern setzte im Zeichen ihrer Maßlosigkeit und Dekadenz das ein, was man einmal "die Apartheid der Antike" genannt hat: ein erster, nachhaltiger Toleranzverlust im Umgang mit anderen Kulturen. Immer wieder verknüpft Frankopan in seiner Gesamtdarstellung die wechselseitigen Einflüsse von Politik und Religion. So konstatiert er etwa, dass die Ausbreitung des Christentums in Asien, wo selbst im Mittelalter mehr Christen lebten als in Europa, ohne die dortige Aufgeschlossenheit fremden Kulturen gegenüber nicht möglich gewesen wäre.

Nach und nach wich der Poly- einem Monotheismus. "Duldet nicht zwei Religionen in Arabien", sollen die letzten Mohammeds gewesen sein, der den Islam als die jüngste Weltreligion begründete. Dass dieser sich im 7. Jahrhundert rasant ausbreiten konnte, lag Frankopan zufolge nicht zuletzt daran, dass Juden und Christen die gemeinsamen Wurzeln ihrer und der neuen Religion im Alten Testament sahen und diese hervorhoben.

Der Siegeszug des Islam brachte dort ein Goldenes Zeitalter: Wissenschaft und Literatur explodierten, der Hof in Bagdad scharte Universalgelehrte um sich. Während das Christentum im Okzident die Gelehrtheit auf dem Altar der Religion opferte, geschah zur selben Zeit im Orient das Gegenteil: Die "Menschen, die offen, neugierig, großzügig waren, lebten im Osten", bilanziert Frankopan. Auch der Schwerpunkt des Handels (und damit Reichtum) lag dort. Im Nachgang der Kreuzzüge, die heute nur als Religionskrieg in Erinnerung sind, begannen dann die Umgestaltung des Nahen Ostens und erste europäische Stellvertreterkonflikte im asiatischen Raum. Mit Kolumbus und Magellan (und dem ihnen folgenden Kolonialismus) verschob sich das Gravitationszentrum endgültig nach Westen.

Auf die Spanier und Holländer folgten die Briten: Frankopan rollt die ganze ausbeuterische Skrupellosigkeit des Empires aus - willkürliche Staatsgründungen inklusive, die bis heute fortwirken. Die USA traten dann das Erbe des Empires an. Sie nutzten aus, dass man sie für ehrenwerte "weiße Ritter" hielt. Der Rest ist eine einzige große Ressourcen-Aufteilungsgeschichte, beflügelt vom Kalten Krieg. Was Verlogenheit angeht, kulminierend in den beiden Irakkriegen von Bush Vater und Sohn. All dies, schlussfolgert Frankopan, hat zunächst den Panarabismus und dann jüngst den Fundamentalismus im arabischen Raum ausgelöst.

Peter Frankopan: Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt. Rowohlt Berlin, 941 Seiten, 39,95 €.

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