Eleganz, fernab jeder Oberflächlichkeit: Claude Lanzmanns Erinnerungen

Saarbrücken. Die Guillotine steht am Anfang. Ausgehend von dieser Maschine als Metapher für die absichtsvolle Tötung von Menschen entfaltet Claude Lanzmann seine "Erinnerungen"

Saarbrücken. Die Guillotine steht am Anfang. Ausgehend von dieser Maschine als Metapher für die absichtsvolle Tötung von Menschen entfaltet Claude Lanzmann seine "Erinnerungen". Der Regisseur des wirkungsmächtigen Films "Shoah" filtert sein Publikum, indem er es sich durch einen furiosen Rückblick auf die organisierte Ermordung von Millionen (und Einzelnen) zu lesen zwingt. Erst dann gibt er den weiten Blick frei auf sein Leben und auf seine Lebensliebe. Der Filter ist die dramaturgische Vorbereitung für einen Erinnerungsroman von überwältigender Kraft.

Lanzmann erzählt von der Überlebenskunst und dem Widerstand im von Deutschen besetzten Frankreich und von seiner jüdischen Jugend in den Jahren nach der Befreiung. Bis er sich auf die Abschlussprüfung in der renommierten Lycée Louis-le-Grand vorbereitet, hat er schon als junger Résistance-Kämpfer Schlachten gegen die SS verloren. Seine Eltern haben sich längst getrennt, er lebt in Paris zwischen Existenzphilosophie und Bordell, zwischen Ladendiebstählen und der später erlahmenden Freundschaft zu Gilles Deleuze - beide Jahrgang 1925.

Lanzmann entwickelt aus seiner Lebenserzählung ein riesiges Panorama der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Kurz nach dem Krieg studierte er in Tübingen, wurde Lektor an der gerade gegründeten Freien Universität in Berlin. Er lebte sechs Jahre in einer Liebesbeziehung mit Simone de Beauvoir zusammen, gab und gibt die von ihr und Jean-Paul Sartre gegründete Zeitschrift "Les Temps Modernes" heraus, flog in Israel mit modernsten Kampfflugzeugen bis zur siebenfachen Erdbeschleunigung, um einen Film über den Krieg zu drehen und schuf den Film "Shoah", mit dem eine neue Intensität der Auseinandersetzung mit der Ermordung der europäischen Juden durch die Nazis einsetzte. Politisch engagierte er sich im Algerienkrieg gegen den Kolonialismus und für das Existenzrecht Israels, gegen die Todesstrafe und gegen jeden Totalitarismus.

Seine Erinnerungen sind eine hochliterarische Vereinigung von anekdotischer Erzählung, philosophischem Essay, jüdischer Selbstvergewisserung und zeitgeschichtlichem Panorama. Lanzmann hat ein sicheres Gespür für die "richtige" Länge und variiert virtuos das Tempo seiner immer sehr intensiven Erzählung, die sich nie in einer Eleganz der Oberfläche verliert.

Im vergangenen Jahr war "Der patagonische Hase" in Frankreich "Buch des Jahres". Solche Auszeichnungen dienen der Verkäuflichkeit eines Buches. Angesichts vieler "falscher" Bestseller ist es ein Trost, dass dieses Buch von vielen gelesen wird.

Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Erinnerungen. Deutsch von B. Heber-Schärer, E. W. Skwara und C. Steinitz. Rowohlt, 675 S. 24,95 €

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