Dem Sprachspiel auf der Spur

Saarbrücken/Paris · Der Eugen-Helmlé-Preis, der jährlich in Saarbrücken verliehen wird, ist eine der wichtigsten Auszeichnungen für literarische Übersetzer. In diesem Jahr geht er an den gebürtigen Kölner Jürgen Ritte. Ein Porträt.

 Jürgen Ritte (r.) mit Starautor Michel Houellebecq bei einer Lesung 2011 in Stuttgart. Foto: Wawra

Jürgen Ritte (r.) mit Starautor Michel Houellebecq bei einer Lesung 2011 in Stuttgart. Foto: Wawra

Foto: Wawra

"Manchmal ist es zum Verzweifeln", sagt Jürgen Ritte. Und auch wenn man ihm anhört, dass er es nicht ganz so ernst meint, kann man sich nur zu gut vorstellen, welche Herausforderung es bedeuten muss, einen Schriftsteller wie Hervé Le Tellier vom Französischen ins Deutsche zu übertragen. Tellier (56) ist ein zeitgenössischer Vertreter der Bewegung Oulipo, einer literarischen Avantgarde-Gruppe, die ihren Werken nahezu unsichtbare sprachliche Regelwerke zu Grunde legt (s. Hintergrund). Auch Telliers Romane sind gespickt von Sprachspielen, Querverweisen und Anspielungen, die der Leser kaum bemerken dürfte, die Übersetzer Ritte aber teilweise großes Kopfzerbrechen bereiteten. Es mag schwierig genug sein, derartige Texte in ein ordentliches Deutsch zu bringen. Dass Rittes Übersetzungen darüberhinaus mit großer Sprachkraft daherkommen, war für die Jury des Eugen-Helmlé-Preises Grund, dem 57-Jährigen die wichtige Übersetzer-Auszeichnung in diesem Jahr zukommen zu lassen.

Er sei eigentlich gar kein "100-prozentiger Übersetzer", sagt Ritte selbst. Vielmehr verlaufe das Übersetzen bei ihm "in Schüben". Alles andere wäre auch kaum vorstellbar angesichts der "drei Kappen", die Ritte gleichzeitig trägt: Geboren 1956 in Köln, blieb er nach dem Germanistik-, Romanistik- und Kunstgeschichts-Studium der Uni treu, wurde 1988 Elmar Topphovens Nachfolger als Deutsch-Lektor an der Pariser Ecole Normale Supérieure. Nach weiteren Uni-Stationen lehrt er mittlerweile als Professor für deutsche Literatur und interkulturelle Studien an der Sorbonne Nouvelle. Parallel schreibt er Literaturkritiken für die "Neuer Zürcher Zeitung". Neben alldem steht die Übersetzerarbeit.

Begonnen hat alles mit Joseph Delteils surrealistisch angehauchtem Roman "An den Ufern des Amur" - Rittes Einstieg vor 30 Jahren. Ihn hätten schon immer "alle möglichen Formen der Literatur-Vermittlung gereizt", sagt Ritte. Tatsächlich gewinnt man im Gespräch mit dem gebürtigen Rheinländer nicht das Bild eines Solitärs, der seine Erfüllung grübelnd in der Übersetzer-Kemenate findet. Eher kann man sich den gut gelaunten Intellektuellen diskutierend im Kreise seiner Studenten vorstellen. Oder in einem Café im Pariser Quatier Latin, wo er seit 30 Jahren wohnt und sich "pudelwohl" fühlt.

Jürgen Ritte hat Werke von Edmond Jabès, Albert Cohen, Marcel Bénabou, Patrick Deville und anderen übersetzt. Und doch sind es zwei bekanntere Namen, die ihn Zeit seines Lebens besonders begleiten: Über Marcel Proust wollte er seine Doktorarbeit schreiben, bis er merkte, dass er immer weniger über den Literaten und immer mehr über sich selbst schrieb. "Ich habe die Distanz nicht geschafft", sagt er heute. Er brach die Arbeit ab und landete bei George Perec. "Nach Proust fand ich das methodische Literaturerzeugen geradezu erholsam." Ritte ging in seiner Doktorarbeit der Frage nach, worin der Reiz der Wortspiele liegt. Doch auch die Leidenschaft für Proust blieb. Zusammen mit dem Kunstsammler Reiner Speck gründete Ritte die Marcel Proust Gesellschaft, die mittlerweile rund 450 Mitglieder zählt.

Sabine Müller und Holger Fock, Alain Lance und Renate Lance-Otterbein - Rittes Helmlé-Preis-Vorgänger waren Übersetzerpaare. Auch Ritte hat zuletzt erstmals zwei Bücher - die Tellier-Romane "Neun Tage in Lissabon" und "Kein Wort mehr über Liebe" - zusammen mit seiner Frau Romy übersetzt. Ein Wagnis, sagt er und lacht: "Meine Frau und ich kamen schon mal als fast Geschiedene vom Tennisplatz herunter." Diesmal ging offenbar alles gut: Die Rittes zogen sich zwei Wochen zurück an die Nordsee und arbeiteten diszipliniert von morgens bis Abends. Das Ergebnis ist eine Übersetzerleistung, die die Jury auch meinte, als sie über Rittes Gesamtwerk urteilte: "Feinfühlig, subtil, elegant".

Am 9. September wird Ritte der mit 10 000 Euro dotierte Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis der Stiftung ME Saar, der Stadt Sulzbach und des SR auf dem Saarbrücker Halberg verliehen. Beginn: 19 Uhr im Studio Eins. Laudator ist Denis Scheck. Zusammen mit Hervé Le Tellier wird Ritte anschließend ein deutsch-französisches "Potpourri oulipien" kredenzen.

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HintergrundOulipo (L' Ouvroir de Littérature Potentielle, dt. "Werkstatt für Potentielle Literatur") ist ein 1960 von François Le Lionnais und Raymond Queneau gegründeter Autorenkreis. Der Leitgedanke besteht darin, Literatur auf eine mathematischen Prinzipien gehorchende, logische Grundlage zu stellen. Das geschieht durch selbst auferlegte formale Schreib-Zwänge. Der Autor kann sie frei wählen, muss sie aber streng einhalten. Beispielhaft ist George Perecs Roman "La Disparition", in dem kein "e" vorkommt. Eugen Helmlé wagte sich 1986 an eine Übersetzung, die nun neu aufgelegt wurde: Georges Perec: Anton Voyls Fortgang. Aus dem Frz. von Eugen Helmlé. Diaphanes, 416 S., 14,95 €. jkl

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