Medizin Was Zwillinge über Multiple Sklerose verraten

Saarbrücken · Forscher der Saar-Uni finden bei einer Zwillingsstudie für diese Krankheit typische Veränderungen in den Zellen des Immunsystems.

 Wo liegen die Ursachen der Multiplen Sklerose? Wissenschaftler der Saar-Universität und der Ludwig-Maximilians-Universität München haben nun bei einer Zwillingsstudie eine überraschende Antwort auf diese Frage gefunden.

Wo liegen die Ursachen der Multiplen Sklerose? Wissenschaftler der Saar-Universität und der Ludwig-Maximilians-Universität München haben nun bei einer Zwillingsstudie eine überraschende Antwort auf diese Frage gefunden.

Foto: Getty Images/ iStockphoto/ozgurdonmaz

Im Mittelpunkt des Lebens, das lernt heute jedes Kind, steht die Zelle. Und im Mittelpunkt der Zelle steckt unser Erbgut. Das Schlüsselelement des Erbguts wiederum ist das Gen. Wer das Gen versteht, der versteht die Zelle. Wer die Zelle versteht, der versteht die Biologie des Menschen, weiß damit, wie Krankheiten entstehen und kann sie besser behandeln. So einfach schien das lange Zeit, dass die Wissenschaft die erste „Entschlüsselung“ eines menschlichen Genoms – der Gesamtheit der Erbinformationen einer Zelle – zur Jahrtausendwende als epochalen Durchbruch feierte. Heute wissen es die Forscher besser. Dieser „Durchbruch“ warf mehr Fragen auf als er beantwortete.

Die Entzifferung des Erbguts war zweifellos ein großer wissenschaftlicher Erfolg. Doch medizinisch musste er so lange ohne Bedeutung bleiben, wie es nicht gelang, bestimmte Gene mit bestimmten Krankheiten in Verbindung zu bringen. Und das erwies sich als schwierig. Und zwar umso schwieriger, je tiefer die Forscher in die Zelle schauten. Sie erkannten dabei: Die Gene sind nicht die allumfassenden Herrscher unseres Stoffwechsels, sie sind selbst einer Steuerung unterworfen. Dafür sorgen sogenannte epigenetische Regler auf dem Molekül der Erbinformation (DNS). Die Wortschöpfung  ist eine Zusammenziehung aus „Genetik“ und der griechischen Vorsilbe „epi“ (nachher/zusätzlich).

Diese Steuerung reagiert auf Ernährung, Sport, Medikamente – sogar unsere Psyche wirkt darauf. Kurz und knapp: Epigenetische Regler steuern die Aktivität der Gene in ständigem Austausch mit der Umwelt. Das hat für die Zellen den Vorteil, dass sie trotz des vorgegebenen, starren Programms der Gene flexibel auf äußere Einflüsse reagieren können. Für die Forscher hatte die Erkenntnis jedoch die ernüchternde Konsequenz, dass der vermeintliche Durchbruch der Genforschung nur der Nullpunkt eines neuen, ungleich komplexeren Forschungsfeldes war. Es wird Epigenetik genannt.

Wie entstehen Krankheiten? Spielt das Erbgut dabei die erste Geige, die Umwelt oder der Zufall? Wer Antworten auf diese Fragen sucht, muss außer den Genen auch deren Regelsystem, das Epigenom, verstanden haben. Doch deren Zusammenspiel ist kompliziert. Bis heute gibt es keine eindeutigen Erklärungen für Ursachen großen Volkskrankheiten, sagt Professor Jörn Walter von der Saar-Uni. Während in der Medizin die Meinung verbreitet sei, viele Leiden entstünden gewissermaßen durch Programmierfehler der Zellen, gingen Epigenetiker davon aus, dass im Körper das diffizile Zusammenspiel von Zellen aus den Fugen geraten ist, welches biologische Prozesse in der Balance hält. Heilung bedeutet nach dieser Definition, „dieses Gleichgewicht in seinen optimalen Zustand zurückzuversetzen“.

Rund 55 000 Krankheiten nennt der ICD-Katalog der Weltgesundheitsorganisation. Nur bei einem kleinen Teil sind einzelne Gene als Auslöser identifiziert. Die meisten dürften im Zusammenspiel von Genen und Umweltfaktoren entstehen. Diesem Thema widmet sich die Forschungsdisziplin der Epigenetik. Ihr prominentester Vertreter an der Saar-Universität ist Professor Jörn Walter. In einer Studie mit Forschern der Ludwig-Maximilians-Universität München ist seiner Arbeitsgruppe nun dieser Nachweis bei der Multiplen Sklerose (MS) gelungen.

Die Krankheit, bei der das Immunsystem das Gehirn angreift, gibt der Medizin Rätsel auf. Sie kann sich durch unterschiedliche Beschwerden wie Seh- und Gefühlsstörungen, Schmerzen und Lähmungen bemerkbar machen. Ursache ist immer eine Entzündung von Nervenstrukturen, die von Immunzellen ausgelöst wird. Doch steckt ihr Auslöser in den Genen oder lauert er in der Umwelt? „Die Zellen im Gehirn können wir nicht direkt untersuchen, an Zellen des Immunsystems kommen wir aber über eine einfache Blutprobe heran“, erklärt Jörn Walter. Den Einfluss des Erbguts blendeten die Saarbrücker Forscher bei der Studie mit einem einfachen methodischen Kniff aus. Sie untersuchten 90 eineiige Zwillingspaare, von denen jeweils ein Geschwisterteil an MS erkrankt war. Das Resultat der Analysen weise klar auf Ursachen in der Genregulation hin: „Genetisch identische Zwillinge hatten eindeutige epigenetische Unterschiede im Erbgut der Immunzellen“, sagt Jörn Walter.

Doch sind diese Veränderungen jetzt Folge oder Ursache der Krankheit? Und was sind ihre Konsequenzen? Das lasse sich noch nicht sagen, erklärt der Professor der Saar-Uni. In jedem Fall habe diese Grundlagenforschung bereits den Wissenshorizont erweitert. Denn bisher sei aus der medizinischen Statistik lediglich bekannt gewesen, dass bei Zwillingspaaren, in denen ein Kind an MS leidet, das Krankheitsrisiko der Schwester oder des Bruders bei etwa einem Viertel liegt, erklärt Jörn Walter. Der Saarbrücker Wissenschaftler ist nach der Zwillingsstudie überzeugt, dass die wichtigsten MS-Auslöser „Substanzen sind, die im Immunsystem genau die Zellen ausbremsen können, die Autoimmunreaktionen stoppen sollen“. Für Jörn Walter weisen die bei der Zwillingsstudie gewonnenen Erkenntnisse zudem deutlich über das Thema Multiple Sklerose hinaus. Er geht davon aus, dass „die meisten Autoimmunkrankheiten epigenetische Auslöser haben“. Zum ersten Mal hätten die Forscher außerdem Langzeitwirkungen von Medikamenten direkt in Zellen entdeckt. Sie fanden Veränderungen in der Gen-Steuerung, die wie ein epigenetisches Gedächtnis für medizinische Wirkstoffe erscheinen. „Wir haben Effekte von Cortison-Präparaten über ein Jahr in den Zellen entdeckt. Das hilft uns, besser zu verstehen, wie genau Medikamente im Körper wirken.“

 Prof. Jörn Walter  Foto: Pütz/UdS

Prof. Jörn Walter Foto: Pütz/UdS

Foto: Jörg Pütz/UDS

Der Saarbrücker Wissenschaftler geht davon aus, dass epigenetische Faktoren bei vielen anderen Leiden eine zentrale Rolle spielen. Dazu gehöre möglicherweise Alzheimer, mit großer Wahrscheinlichkeit aber der Leberkrebs. Der entwickelt sich schleichend über Jahre hinweg. „Eigentlich ist unsere Leber ja ein Organ, das sich unglaublich gut regeneriert.“ Wird sie jedoch durch falsche Ernährung, Alkohol oder Infektionen chronisch überlastet, sterben ihre Zellen ab und es entwickelt sich in mehreren Stufen Narbengewebe, eine Fibrose. Sie ist die Vorstufe zum Krebs. „Bis zu welchem Punkt ist dieser Prozess noch zu stoppen?“, lautet eine Frage, der die Epigenetiker nachgehen. „Wenn wir diese Entwicklung verstanden haben, können wir über bessere Behandlungskonzepte nachdenken.“ Denn darum geht es in letzter Konsequenz in der Epigenetik – sie will den Weg zu einer neuen, personalisierten Form der Medizin ebnen, die Krankheiten an der Wurzel packt. Jörn Walter ist davon überzeugt, dass sie die Medizin des 21. Jahrhunderts völlig verändern wird. So könnten sich am Ende dann doch noch die Hoffnungen erfüllen, die zur Jahrtausendwende mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms verbunden waren.

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