Kläger hoffen auf mehr Demokratie bei Wahlen

Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht verkündet heute, ob die umstrittene Reform des Bundeswahlrechts vom 2011 rechtens ist. Das Karlsruher Gericht hatte diese Reform 2008 eingefordert, um dem undemokratischen Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts ein Ende zu bereiten. Das mit den Stimmen der schwarz-gelben Koalition verabschiedete Gesetz geht den Klägern aber nicht weit genug

Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht verkündet heute, ob die umstrittene Reform des Bundeswahlrechts vom 2011 rechtens ist. Das Karlsruher Gericht hatte diese Reform 2008 eingefordert, um dem undemokratischen Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts ein Ende zu bereiten. Das mit den Stimmen der schwarz-gelben Koalition verabschiedete Gesetz geht den Klägern aber nicht weit genug. Geklagt hatten SPD und Grüne im Bundestag sowie 3064 Bürger. Sie kritisieren, dass einzelne Parteien weiter von Überhangmandaten profitieren können, die den Wählerwillen verzerrten.Hintergrund des Streits ist die in Deutschland übliche personalisierte Verhältniswahl mit Erst- und Zweitstimme: Mit der Erststimme sollen Wahlkreisabgeordnete direkt in den Bundestag gewählt werden, gleichzeitig soll aber die Zusammensetzung des Bundestags insgesamt dem Kräfteverhältnis der Parteien nach den Zweitstimmen entsprechen. Und schließlich soll dies noch so geschehen, dass die Bundesländer jeweils nach ihrer Wählerzahl im Parlament vertreten sind.

Die Bundesregierung hatte auf das Urteil der Verfassungshüter vom Juli 2008 hin das Wahlrecht geändert, um den Effekt des negativen Stimmgewichts zu minimieren. Danach können mehr Stimmen für eine Partei in einem Bundesland dazu führen, dass diese Partei in einem anderen Bundesland einen Sitz verliert, ohne dass es in dem Bundesland mit den zusätzlichen Stimmen für ein weiteres Mandat reicht. Überhangmandate sind aber nach Auffassung der Kläger trotz der Reform weiter in großer Zahl möglich. Sie entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mit der Erststimme mehr Direktmandate erringt, als es ihrem Anteil an den Zweitstimmen entspricht. Nicht auszuschließen ist nun, dass Karlsruhe darin einen Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit sieht und erneut eine Korrektur einfordern wird. Im vorangegangenen Urteil zu Überhangmandaten von 1997 war das wegen einer 4:4-Stimmengleichheit auf der Richterbank aber noch nicht der Fall gewesen. Die unterlegenen vier progressiven Richter hatten damals allerdings auf mehr als 40 Seiten dargelegt, warum Überhangmandate ohne Ausgleich die Rechte der Wähler und die Chancengleichheit der Parteien verletzen. Und sie hatten darauf verwiesen, dass selbst der Gesetzgeber früher Überhangmandate als "gewisse Schönheitsfehler" ansah und sie nur deshalb hinnahm, weil sie "ohnehin nur in äußerst geringer Zahl anfallen" würden und deshalb "ignoriert werden" könnten.

Für die Zeit vor der Wiedervereinigung stimmte das auch: In den Wahlen zwischen 1965 und 1987 gab es insgesamt nur vier Überhangmandate. Danach stieg die Zahl wegen ungleicher Wahlkreisgrößen und zunehmender Parteienzahl aber immer weiter an: 2005 lag sie schon bei 16 und erreichet 2009 den Rekordstand von 24, alle für die Union. 24 Überhangmandate sind den Klägern zufolge vier Prozent der Abgeordneten und entsprechen 1,6 Millionen "geschenkten" Wählerstimmen. Gut möglich, dass eine Mehrheit der Verfassungshüter darin nun mehr als einen noch zulässigen "Schönheitsfehler" sieht und die neuerliche Korrektur des Wahlrechts fordert. Vor allem auch, weil eine zersplitterte Parteienlandschaft nach Angaben von Mathematikern zu einer Ausweitung von Überhangmandaten führen könnte.

Hintergrund

Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland über die Erststimmen mehr Mandate direkt erobert, als ihr nach der Zahl der Zweitstimmen zustehen. Das negative Stimmengewicht bezeichnet einen kuriosen Effekt, der mit den Überhangmandaten zusammenhängt: Bei Bundestagswahlen kann ein Gewinn an Zweitstimmen für eine Partei nämlich zum Verlust eines Abgeordnetenmandats führen. Denn die Zahl der Zweitstimmen in einem Bundesland ist ausschlaggebend für die Verteilung der Mandate auf die einzelnen - miteinander verbundenen - Landeslisten. Eine niedrige Stimmenzahl kann zur Folge haben, dass eine andere Landesliste vorrangig zum Zuge kommt.

Tritt eine solche Konstellation aber in einem Land ein, in dem eine Partei Überhangmandate gewonnen hat, kann die Verlagerung eines Mandats auf eine andere Landesliste sogar günstig sein. Auch wenn weniger Zweitstimmen dazu führen, dass bei der parteiinternen Verteilung der Listenmandate eine Liste aus einem anderen Bundesland zum Zuge kommt, bleiben die Direktmandate erhalten. Unter dem Strich hat eine Partei damit - trotz Stimmenverlusten - ein Mandat gewonnen. dpa

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