Ärzte operieren zu gern

Berlin

Berlin. Werden Männer mit Prostatakrebs in Deutschland falsch behandelt? Ist die komplette oder teilweise Entfernung dieses Organs, Standardtherapie in deutschen Krankenhäusern, in vielen Fällen voreilig und unnötig? Eine gestern in Berlin vorgestellte Studie der Barmer-Ersatzkasse bejaht diese Fragen zum großen Teil eindeutig und rät dazu, ein festgestelltes Karzinom lieber erst einmal zu beobachten und sehr vorsichtig zu entscheiden.Die überraschenden Ergebnisse präsentierte gestern die Freiburger Gesundheitsforscherin Eva Maria Bitzer im Rahmen des jährlichen "Barmer-Krankenhausreports". Sie begründete ihre Schlussfolgerungen aus aktuellen Krankenhausstatistiken und einer Patientenbefragung. Zusammengefasst: Prostatakrebs ist eine Erkrankung des Alters und meist nicht todesursächlich. Dass die Zahl der in den Krankenhäusern behandelten Fälle in den letzten 16 Jahren von 14,7 auf 20,9 je 10 000 Männer gestiegen sei, liege ausschließlich an der demografischen Entwicklung.

Unter 55 Jahren kommt die Erkrankung praktisch überhaupt nicht vor. Sie hat ihre größte Häufigkeit bei den über 70-Jährigen. Die Sterblichkeit von Menschen, bei denen Prostatakrebs eindeutig diagnostiziert wurde, ist zwar höher als bei Menschen ohne diese Erkrankung, jedoch nur leicht. Laut Zahlen der "Barmer" sterben von 100 Männern mit Prostatakrebs 23 innerhalb der folgenden fünf Jahre, davon jedoch - altersbedingt - 15 an anderen Ursachen und nur acht an dem Krebs selbst. "Man stirbt mit einem Prostatakrebs, aber nicht an ihm", sagte Bitzer.

Obwohl eine Überlegenheit der Totaloperation nicht nachgewiesen sei, ist sie aber in über 50 Prozent der rund 84 000 Fälle, die jährlich in deutschen Krankenhäusern behandelt werden, die Therapieform der Wahl. Im relativen Vergleich wird in Deutschland doppelt so häufig operiert wie in den USA. Vor allem bei den Jüngeren. Bei über 80-Jährigen wird der Eingriff hingegen praktisch gar nicht mehr vorgenommen.

In drei von vier Fällen, so Bitzer, sei das Karzinom noch sehr klein, es gebe nicht einmal Beschwerden. Eigentlich gäbe es keinen unmittelbaren Operationsgrund. "Aber viele Patienten haben Panik und wollen, dass das Ding rauskommt."

Erst beobachten

Bitzer rief die Urologen dazu auf, den Männern, wenn keine gravierenden Symptome vorhanden seien, zunächst eine weitere Beobachtung des Krebses zu empfehlen. Denn, so ergab eine Patientenbefragung, es treten bei der Prostata-Entfernung häufig Komplikationen auf, die Nebenwirkungen sind drastisch und dauerhaft. So berichteten 20 Prozent der Patienten von starken Blutungen nach der Operation. Und gar 70 Prozent beklagten, dass sie seit der Diagnose Prostatakarzinom keine Erektion mehr gehabt hätten. Weitere 15,7 Prozent leiden stark unter Inkontinenz, die dauerhaft bleibt. Die Folgen: "Deutliche Beeinträchtigungen in der emotionalen und sozialen Funktionsfähigkeit sowie finanzielle Schwierigkeiten".

Schonende Varianten

Die Nebenwirkungen sind geringer, wenn schonende Operationsverfahren gewählt werden, die gefäß- und nervenerhaltend sind. Der Anteil solcher Operationsvarianten stieg immerhin von 30 Prozent im Jahr 2005 auf 55 Prozent im letzten Jahr, was die Kasse positiv bewertete. Ansonsten aber, so schloss die Barmer aus der Studie, sei der Umgang mit Prostatakrebs möglicherweise "ein prominentes Beispiel für das Phänomen der Überversorgung".

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