Ein Kampf um jedes Wort

Nur noch wenige Minuten. Sie muss es schaffen, sonst kommt sie zu spät.

 Wort für Wort bringt Mechtild Müller-Benecke (li.) von der VHS im Regionalverband Saarbrücken einer Schülerin Lesen und Schreiben bei. Foto: Iris Maurer

Wort für Wort bringt Mechtild Müller-Benecke (li.) von der VHS im Regionalverband Saarbrücken einer Schülerin Lesen und Schreiben bei. Foto: Iris Maurer

Foto: Iris Maurer

Aber welcher Bus ist der richtige? Und auf welchem Plan steht, wann er kommt? Vielleicht ist es sogar der, der gerade um die Ecke biegt. Christina Müller (37, Name geändert) weiß es nicht, sie fährt nicht oft von dieser Haltestelle ab. Herzklopfen. Feuchte Hände. Wer kann helfen? Wieder einmal muss sie sich durchmogeln. Christina schüttelt ihre schwarz gefärbten Haare aus der Stirn. "Entschuldigung", spricht sie eine Frau an, die neben ihr wartet. "Ist das der Bus zum Rathaus? Ich habe nämlich meine Brille vergessen." Für Christina ist so etwas Alltag. Das Schlimmste für sie ist, wenn sie einen Brief oder eine E-Mail schreiben soll. Dann erlebt sie: "Horror. Totaler Blackout. Ich weiß, was ich schreiben will, aber ich kriege die Buchstaben einfach nicht zusammen. Ich bin hilflos."

Christina ist in einem saarländischen Dorf aufgewachsen, bevor sie nach Saarbrücken gezogen ist. Heute ist sie Mutter von fünf Kindern, ohne Job, sie lebt von Hartz IV. Ihre grauen Augen huschen durchs Zimmer, ihnen entgeht nichts. Christina weiß, wie sie sich durchs Leben schlagen kann. Das muss sie auch, denn sie ist eine von geschätzten 90 000 Saarländern, die als Analphabeten bezeichnet werden. Jeder siebte Saarländer im Alter von 18 bis 64 Jahren ist davon betroffen. Geschätzt wird die Anzahl, weil keine genaue Erhebung möglich ist - viele bleiben aus Scham anonym. Auch Christina möchte nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden. Sie gehört zu den "funktionalen Analphabeten", die so wenig schreiben können, dass sie dadurch in ihrem beruflichen und sozialen Leben stark behindert werden. Auch im Alltag muss sie sich durchhangeln: So kann sich Christina im Supermarkt nicht an Schildern über den Regalen orientieren, wo sie welche Lebensmittel findet. Will sie Essen bestellen, liest ihr die Tochter die Speisekarte vor. In der Apotheke nennt Christina nicht den Namen eines Medikaments, sondern erklärt, dass sie etwas gegen Halsweh möchte. Bei Anträgen für die Agentur für Arbeit, bei Formularen fürs Kindergeld, bei Verträgen bittet sie ihre Mutter um Hilfe. Christina kann ihren Namen und ihre Adresse schreiben, bei längeren Sätzen hat sie Schwierigkeiten. Sie kann lesen. Allerdings braucht sie für einen Text, den andere in fünf Minuten erfassen, drei Stunden, bei komplizierten Worten hangelt sie sich von Buchstabe zu Buchstabe.

Nach dem Schreckmoment von heute Morgen hat Christina es pünktlich mit dem Bus zur Volkshochschule (VHS) geschafft. "Jetzt bist du dran, Christina", sagt Jutta Braunegger. "Lies bitte das nächste Wort auf dem Arbeitsblatt vor und klatsch bei jeder Silbe in die Hände." "Ge-burts-ort", liest Christina mit Konzentrationsfalte auf der Stirn. "Sehr gut", lobt ihre Lehrerin. Gerade nimmt sie mit Christina und zwei weiteren erwachsenen Schülerinnen ein Kapitel zum Thema Behörden durch. Den VHS-Kurs besucht Christina seit zwei Jahren einmal pro Woche, eine Einheit dauert drei Stunden. Damit ist sie eine von 500 Analphabeten im Saarland, die durch diese Form der Weiterbildung erreicht werden. Als Vorbildung brachte sie vier Jahre Grundschule und vier Jahre Förderschule mit - schon damals fiel ihre Lese- und Rechtschreibschwäche auf. Zwischen ihrem letzten Schultag und dem ersten Tag im VHS-Kurs lagen knapp 20 Jahre, in denen sie "auf der Strecke geblieben ist", wie sie sagt, kurz auf den Boden guckt und dabei an ihren Fingernägeln knibbelt. Bei ihr zuhause wurde wenig gelesen: manchmal die Bravo, das Fernsehprogramm, die Zeitung. Mit 16 bekam Christina ihr erstes Kind, mit 18 heiratete sie, mit 33 hatte sie fünf Kinder und ließ sich von ihrem Mann scheiden. Sie wollte von ihm "nicht mehr runtergemacht, nicht mehr vor anderen als blöd hingestellt werden". Christina wollte mehr als Hartz IV, Putzjobs und eine kleine Wohnung für sich und die Kinder. Vor ihnen hatte sie ihre mangelnden Lese- und Schreibkenntnisse lange versteckt. "Es war mir ja schon ein bisschen peinlich", sagt Christina und wirft wieder trotzig die Haare aus der Stirn. "Wenn ich den Kindern vorlesen wollte, habe ich vorher heimlich geübt. Dann habe ich halb vorgelesen, halb aus dem Gedächtnis erzählt. Ich kann mir Sachen sehr gut merken."

Dass sie "topfit im Kopf" ist, bemerkte auch die Familienhelferin, die Christina bei ihrer Scheidung und dem Kampf ums Sorgerecht für ihre Kinder unterstützte. Verbissen arbeitete sich Christina damals durch ein Gutachten, das ihre Erziehungsfähigkeit infrage stellte. Eine Woche brauchte sie für 97 Seiten. "Meine Familienhelferin hat denen bei der Arge dann wohl einen Tipp gegeben, dass ich einen Kurs machen soll. Vorher haben mich die Leute da eher für blöd gehalten und nicht ernst genommen, glaube ich", sagt Christina und zieht dabei die Schultern hoch, als müsste sie sich vor abfälligen Blicken schützen. Auch nach zwei Jahren VHS-Kurs hat sie "Angst, dass ich über den Tisch gezogen werde, weil ich nicht so gut lesen und schreiben kann". Von der Agentur für Arbeit, dem Vertreter von Kabel Deutschland, einem zukünftigen Vermieter. Auch das Internet ist ihr ein bisschen unheimlich, sie benutzt es manchmal für Spiele. Auf Facebook kann sie Freunde annehmen oder ablehnen, einen Inhalt teilen, auf "Gefällt mir" klicken. "Meine Kinder haben mich da reingeholt, das hätte ich sonst nicht geschafft", sagt Christina. Kinokarten bestellen oder Informationen einholen macht sie am liebsten per Telefon. Zahlen allerdings sind für sie kein Problem, sagt sie und grinst schief.

Wenn der VHS-Kurs geschafft ist, will sie ab Herbst eine Ausbildung zur Stationspflegerin machen. Endlich einen festen Job haben, eine größere Wohnung mieten, den Führerschein machen, mal was anderes als das Saarland sehen, mit den Kindern ans Meer fahren und nicht mehr auf den Bus angewiesen sein - davon träumt Christina. "Ich will frei sein, unabhängig, glücklich. Noch mal ganz neu anfangen." Mit jedem Wort, das sie sich auf dem Papier erkämpft, kommt sie diesem Ziel näher.

Zum Thema:

HintergrundDer Saar-Landtag wird sich am kommenden Mittwoch mit der Bildungskampagne zur Alphabetisierung beschäftigen. Ziel soll unter anderem sein, präventive Maßnahmen in Schulen zu verstärken. In Deutschland gelten 7,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter (18 bis 64 Jahre) als funktionale Analphabeten. Zu 60 Prozent sind es Männer, zu 40 Prozent Frauen. Sie können einzelne Sätze lesen und schreiben, jedoch keine zusammenhängenden Texte. Zu den Ursachen gehören ein bildungsfernes Elternhaus, ein fehlender Hauptschulabschluss oder verlernte Lesekompetenz, weil kaum gelesen wird. Im Saarland sind Volkshochschulen die zentrale Anlaufstelle für Alphabetisierungskurse. Eine Ansprechpartnerin ist Mechtild Müller-Benecke, Telefon (06 81) 506 43 38. em

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