Der steile Aufstieg der Wollpulli-Partei "Wir sind nur noch eine Art grüne FDP" März 1980: Grüne streiten heftig um "Saarbrücker Programm"

Berlin. Die Grünen sind längst erwachsen. Mitte Januar wird die Partei 30. Die Zeiten von Rauschebärten und Selbstgestricktem sind lange vorbei. Die Grünen sind in Parlamente eingezogen und auf Regierungsbänke gerückt. Sie haben den Wollpulli gegen das Sakko eingetauscht und debattieren inzwischen ebenso wohltemperiert wie die politische Konkurrenz

Berlin. Die Grünen sind längst erwachsen. Mitte Januar wird die Partei 30. Die Zeiten von Rauschebärten und Selbstgestricktem sind lange vorbei. Die Grünen sind in Parlamente eingezogen und auf Regierungsbänke gerückt. Sie haben den Wollpulli gegen das Sakko eingetauscht und debattieren inzwischen ebenso wohltemperiert wie die politische Konkurrenz. Die Partei gewinnt Mitglieder, Wählerstimmen und vor allem Potenzial. Der Lebensstil der Deutschen wird immer grüner - die Programme der politischen Mitbewerber auch. Doch die Grünen scheinen verunsichert und auf der Suche nach ihrem Platz im Fünf-Parteien-System. Der Nachwuchs, Parteilinke und alte Weggefährten meinen zu wissen, was die Partei jetzt braucht - ein bisschen radikaler und bunter möge sie wieder sein.

Die Grünen traten 1980 als Anti-Parteien-Partei an, um das etablierte System aufzumischen, für mehr Gleichberechtigung zu kämpfen und das Thema Ökologie in den Fokus zu rücken. Das ist gelungen. Anfangs seien sie verschrien gewesen als "verrückte Spinner, Birkenstocks und Müslis", erzählt Parteichefin Claudia Roth. Die einen hätten sie beschimpft, die anderen ausgelacht. Heute sind Birkenstocks in, und die Grünen sind mit ihrem einstigen "Alleinstellungsmerkmal" im Alltag angekommen. Öko ist chic. Wer etwas auf sich hält, kauft Bio-Bananen, trägt Shirts aus Bio-Baumwolle und trennt seinen Müll.

Bei den Wählern haben die Grünen kontinuierlich dazugewonnen. Die einstige Protestpartei ist in Rathäuser eingezogen und hat es auf Landesebene und im Bund auf die Regierungsbank geschafft. Das sei nicht immer leicht gewesen, sagt Roth. Es sei eine "schmerzhafte" Erfahrung, "dass zur Politikfähigkeit einer grünen Partei auch die Kompromissfähigkeit gehört".

Ihre interne Kompromissbereitschaft haben die Grünen in den vergangenen Monaten demonstriert. Heftige Debatten um die Koalitionsfrage im Bund lösten sich regelmäßig in Wohlgefallen auf - immer rechtzeitig zum Parteitagsbeschluss. Den Nachwuchs ärgert das. Aus "Angst, dass die ganze Partei auseinander fliegt", würden Diskussionen nicht ausgetragen, sondern vertagt, sagt der Sprecher der Grünen Jugend, Max Löffler. Der Parteispitze gehe es darum, Geschlossenheit zu demonstrieren. Im Wahlkampf sei das nachvollziehbar, "aber nun wird das zu einer Art Dauerzustand". Auf ihrem Weg zu einer etablierten Partei sei den Grünen der Sinn für "selbstkritisches Infragestellen der eigenen Rolle" abhandengekommen. Auch Löfflers Co-Sprecherin bei der Grünen Jugend, Gesine Agena, meint, die Partei müsste "wieder radikaler denken". Geschlossenheit "um jeden Preis" sei nicht der richtige Weg. Mit ihrer Kritik sind die Jungen nicht allein. Urgestein Hans-Christian Ströbele hält seine Partei in manchen Dingen für "zu etabliert". "Im äußeren Erscheinungsbild wünsche ich mir die Grünen manchmal etwas bunter und alternativer", sagt er. Im Parlament etwa sind ihm die Grünen zu zahm und könnten wieder mal "Formen des Protestes praktizieren, wie wir das früher gemacht haben".

Ludger Volmer (siehe Interview) geht noch weiter. Er gehört wie Ströbele zu den Mitbegründern der Grünen, war Parteichef und saß in rot-grünen Regierungszeiten als Staatsminister im Auswärtigen Amt. Inzwischen hat er sich aus der Parteipolitik zurückgezogen - und entsprechend undiplomatisch fällt sein Urteil aus. Volmer kritisiert, die Grünen hätten in den vergangenen 15 Jahren wesentliche Teile ihres Profils verspielt.

Die Parteispitze will davon nichts wissen. Die Grundsatzdebatten führten immer noch die Grünen, sagt Claudia Roth. Von Profilverlust oder Mutlosigkeit könne keine Rede sein. "Wir sind keine Alt-Partei geworden, sondern eine Alternative im Parteiensystem - nach wie vor." Fraktionschefin Renate Künast meint, die Partei habe sich sicher gewandelt, aber nie angepasst im negativen Sinne. "Wir haben die Gesellschaft verändert", sagt sie, "und das hat uns verändert."Was geht Ihnen beim Jubiläum als Erstes durch den Kopf?

Volmer: Die Grünen sind zweifellos die erfolgreichste Parteigründung der deutschen Nachkriegszeit. Wir wollten die Ökologie als Grundkategorie in die Politik einführen. Das hat die Partei mit Bravour geschafft.

Haben sich die Grünen damit gewissermaßen zu Tode gesiegt?

Volmer: Es ist ein Riesen-Erfolg, dass keine ernst zu nehmende Partei mehr am Umweltschutz vorbei kommt. Was mich stört, ist, dass die Grünen den Zusammenhang zwischen der sozialen und der ökologischen Frage weitgehend aus dem Auge verloren haben. Früher haben wir ganz selbstverständlich von sozialökologischer Politik gesprochen, um eine gesellschaftliche Mehrheit für ökologische Veränderungen zu bekommen. Das hat sich leider verflüchtigt.

Woran liegt das?

Volmer: Das liegt daran, dass sich das Profil der Grünen seit Mitte der 90er in Richtung politische Mitte verschoben hat. Die Bindungen zu Gewerkschaften, zu sozial schwächeren Schichten wurden vernachlässigt. So wurde die sozialökologische Ausrichtung durch das Konzept einer Art grünen FDP ersetzt. Damit haben die Grünen auf der linken Seite des Parteienspektrums Platz gemacht und letztlich der PDS auch im Westen den Weg bereitet.

Dieser Umstand wird eigentlich immer der SPD angelastet.

Volmer: In den 80er Jahren haben die Grünen den Sozialprotest, der nicht mehr SPD wählen wollte, einkassiert. Heute geht dieser Sozialprotest zur Linkspartei. Die einstige rot-grüne Perspektive ist dadurch erst einmal dahin.

In Hamburg mit der CDU, im Saarland auch mit der FDP - die Grünen können scheinbar mit allen regieren. Zeugt das von Beliebigkeit?

Volmer: Die Gefahr liegt nahe. Die Frage ist aber nicht, ob man die eine oder andere Koalition macht, sondern ob der grundsätzliche gesellschaftspolitische Veränderungswille noch aufrechterhalten bleibt. Und da habe ich meine Fragen.

In Ihrem neuen Buch werfen Sie die Frage auf, ob die Grünen Funktionspartei oder ökologische Avantgarde sein sollen. Aber Ihre Antwort fehlt . . .

Volmer: Als Funktionspartei, also als Mehrheitsbeschaffer für wen auch immer, kann man die Grünen sicher bei zehn bis 15 Prozent stabilisieren und erhalten. Nur wozu, wenn die gesellschaftliche Veränderungsperspektive dabei fehlt? Angesichts der globalen Krisen scheint mir eine solche Perspektive dringend notwendig zu sein.

Mit der Linken, der SPD und den Grünen gibt es gleich drei linke Parteien in Deutschland. Wäre eine Fusion langfristig realistisch?

Volmer: Dazu müssten sich die Linken erst mal klar darüber werden, ob es nur um die Selbstbehauptung der jeweils eigenen Partei geht, oder um ein gesellschaftliches Veränderungsprojekt. Erst wenn das umrissen ist, kann man auch über Strategien für seine Durchsetzung reden.Saarbrücken. Die Saarlandhalle spielt in der Gründungsgeschichte der Grünen eine besondere Rolle. Nachdem beim Gründungskongress in Karlsruhe im Januar 1980 vor allem über organisatorische Fragen gestritten worden war, ging es beim zweiten Bundesparteitag in Saarbrücken um Inhalte. Das nach dreitägiger Diskussion am 23. März 1980 verabschiedete "Saarbrücker Programm" sei "trotz mancher Mängel die klarste und umfassendste Orientierung der Grünen geblieben", schreibt Rolf Stolz, der seinerzeit in den Bundesvorstand gewählt wurde.

Die SZ berichtete am Tag danach von einem "chaotischen Parteitag im Zeichen deutlicher Spannungen". Heftige Debatten hätten fast zu einer Spaltung geführt. "Die grünen Gallionsfiguren fielen in der Saarlandhalle wie die Bauern beim Kegeln", hieß es. In einem Kommentar war schließlich davon die Rede, dass bei den Grünen nach diesem Treffen "der Lack ab" sei, und es den etablierten Parteien jetzt leicht fallen müsse, den grünen Aufschwung sehr schnell zu stoppen: "Als Koalitionspartner - wo auch und mit wem immer - sind die Grünen seit Saarbrücken indiskutabel." 30 Jahre später regieren sie sogar im Saarland mit . . .tho

Hintergrund

Seit der Gründung Mitte Januar 1980 sind die Grünen deutlich gewachsen. Ihren bisherigen Höhepunkt bei den Mitgliederzahlen erreichten die Partei 1998, als sie gemeinsam mit der SPD die erste rot-grüne Koalition auf Bundesebene bildete. In den Jahren darauf gingen die Mitgliederzahlen leicht zurück. Heute ist die Partei knapp davor, den Rekordwert zu brechen. So sieht die zur Mitgliederentwicklung aus: 1983: 25 222, 1985: 37 024, 1990: 41 316, 1995: 46 410, 1998: 51 812, 2000: 46 631, 2009: 48 089. Das Durchschnittsalter der Mitglieder liegt aktuell bei 47 Jahren. 13,8 Prozent sind jünger als 30 Jahre; 13,7 Prozent 60 oder älter. ddp

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