Der Maidan lebt

Vor der Bühne des Maidan in Kiew schaut sich Alexander Kiriljuk lange die Bilder der getöteten Demonstranten an. „Ich kannte die Hälfte von ihnen“, sagt der Arzt aus Winniza in der Westukraine bedrückt.

Zwei Wintermonate lang hat auch er demonstriert in dem verbarrikadierten Lager mitten in der Hauptstadt. Dann floh Präsident Viktor Janukowitsch, nachdem bei Straßenkämpfen mehr als 100 Menschen erschossen worden waren. Aus der Heimat ist Kiriljuk für einen Besuch auf den Unabhängigkeitsplatz (Maidan) zurückgekehrt.

Das Lager steht noch. Ein scharfer Wind weht am Donnerstag über Zelte und Bretterhütten, zerrt an den Fahnen der Ukraine und Europas. Die Munition des Aufstands liegt noch in jeder Ecke - alte Autoreifen oder ausgerissene Pflastersteine. Mehrere Barrikaden, nun übersät mit Blumen, riegeln nach wie vor die steile Institutskaja-Straße ab. An dieser Straße sind viele Demonstranten erschossen worden - in der Sprache des Maidan sind sie die "Himmlische Hundertschaft". Weil aber nicht mehr Zehntausende Menschen den riesigen Platz füllen, wirkt das Lager wie ein kleines, etwas verlorenes Dorf mitten in der Großstadt. Helme und Schilde sind verschwunden, dafür tragen viele Männer die Uniform der neuen Nationalgarde. Politisch ist vom Sieg vor dreieinhalb Wochen wenig geblieben: Zwar verschwand Janukowitsch, eine schwache Übergangsführung kam, doch Russland annektierte im Handstreich die Halbinsel Krim.

"Es ist, als sei man beraubt worden. Als sei jemand in die Wohnung eingebrochen und habe alles gestohlen", beschreibt ein Kiewer die Ohnmacht gegenüber dem mächtigen Nachbarn. Auf dem Maidan geben sich die Menschen aber trotzig. "Die Ohren eines toten Esels kriegst du, Putin, nicht die Krim!" hat jemand auf ein Blech gepinselt. "Die Ukraine ist es leid, dass Putin sich hier wie der Hausherr aufführen kann", sagt Kiriljuk.

Die Abspaltung der Halbinsel sei nur vorübergehend - so die vorherrschende Meinung. "Die Ukraine wird niemals den Kampf um die Befreiung der Krim aufgeben, so lang und schmerzhaft er auch sein mag", erklärt am gleichen Tag das Parlament in einer Resolution.

Gewehrt hat sich die Ukraine trotzdem nicht. Auch auf dem sonst so aufbrausenden Maidan blieb es ruhig. Dahinter steckt teils Einsicht in die eigene Schwäche, teils Taktik. Die neue Regierung, dem Protestlager immer noch eng verbunden, mahnt zur Ruhe. Die Radikalen sollten "keine Gelegenheit zu Dummheiten" bekommen, die nur Russland in die Hände gespielt hätten, wie einer aus der Leitung sagt. Also gab es keine Massendemonstrationen.

"Protest wäre nötig", meint Galina Zyganenko vom psychologischen Dienst, der die Demonstranten betreut. "Aber vielleicht bedarf es anderer Mittel, um die Krim zurückzuholen" - irgendwann in der Zukunft." Einstweilen bemüht sich die Ukraine, ihre Soldaten von der Halbinsel in Sicherheit zu bringen. "In einiger Zeit wird die Krim um Rückkehr betteln", meint Boris Kowal aus dem westukrainischen Tschernowzy (Czernowitz). Er fordert vom Westen harte Sanktionen gegen Russland. "Europa ist nicht ehrlich mit uns", ereifert sich der Fremdenführer.

Als Ironie der Geschichte wird an diesem Tag in Brüssel der politische Teil des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Ukraine unterzeichnet. Es war der Richtungswechsel des mittlerweile abgesetzten Präsidenten Janukowitsch von der EU nach Russland gewesen, der im November die Proteste ausgelöst hatte.

Die Annäherung mit der EU sei zwar wichtig, sagt Iwan Kukurudsiak vom Maidan-Pressezentrum. "Das war eine Forderung des Maidans." Aber einstweilen drängen andere Fragen: die Krim, die ukrainischen Soldaten, auch die Klärung, wer für die Bluttaten am 21. Februar verantwortlich war. "Diejenigen, die geschossen haben, müssen bestraft werden", fordert Kiriljuk.

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