Bedrohte Welt? In der Mitte der Gesellschaft rumort es

Berlin · In Deutschlands Mittelschicht herrschen Angst und Verunsicherung, klagen Skeptiker. Andere warnen vor Alarmstimmung.

 Schöne bunte Reihenhauswelt? Das Symbol der Idylle in Deutschlands Mittelschicht trügt. Zwar gibt es viel Zufriedenheit in der Mitte – aber auch zunehmende Abstiegsängste.

Schöne bunte Reihenhauswelt? Das Symbol der Idylle in Deutschlands Mittelschicht trügt. Zwar gibt es viel Zufriedenheit in der Mitte – aber auch zunehmende Abstiegsängste.

Foto: picture alliance / dpa Themendienst/dpa Picture-Alliance / Klaus-Dietmar Gabbert

Sorgen um die Stabilität der Mittelschicht in Deutschland gibt es seit Jahren. Neue Nahrung erhalten sie durch die digitalen Umbrüche, die Millionen Arbeitsplätze betreffen. Jobs etwa im Handel, bei Banken und Versicherungen sind durch die Ausbreitung der künstlichen Intelligenz in Gefahr, wie Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) gestern bei einer Buchvorstellung in Berlin einräumt. Das Buch „Das Ende der Mittelschicht“ zeichnet ein Bild von Verunsicherung und vom Verschwinden vertrauter Lebensmodelle. Wie ist es um die Mittelschicht in Deutschland bestellt? Welche Szenarien gibt es?

Der Buchautor und Journalist Daniel Goffart (58) beschreibt die eigene Kindheit in Aachen: „Unsere Nachbarn waren normale Angestellte, Techniker, Lehrer, mittlere und höhere Beamte in der Stadtverwaltung, Juristen, Handwerker und ein Redakteur.“ Ein Grundgefühl habe alle verbunden, gleiche Regeln und Werte. Diese einheitliche Mittelschicht auf sicherem Boden sieht Goffart quasi am Ende. Mieten und Immobilienpreise seien explodiert. Gesunken seien die Kaufkraft und die Fähigkeit, Vermögen anzusammeln. „Viele strampeln sich ab wie im Hamsterrad.“ Hinzu komme nun die Digitalisierung.

Heil will die Alarmstimmung nicht unterstützen. Nötig sei eine „Haltung, die nicht Ängste schürt oder anheizt“, betont er. „Realistische Zuversicht“ nennt der SPD-Mann das. Und wie schätzen Ökonomen die Lage der Mitte heute ein? „Die Mittelschicht stellt weiterhin eindeutig die größte Bevölkerungsgruppe in Deutschland“, sagt Judith Niehues vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Untersucht hat Niehaus die Situation in einer Studie „Die gespaltene Mitte“. Zur Mitte zählen demnach alle, deren Einkünfte um das mittlere Einkommen der Gesellschaft liegen – nämlich bei 80 bis 150 Prozent dieses Medians. Das waren 2015 für einen Single 1440 bis 2710 Euro netto im Monat. Fast jeder Zweite gehört demnach zur Mittelschicht – 47,5 Prozent der Bevölkerung. 32,9 Prozent liegen darunter, 19,5 Prozent darüber.

Laut Forschungsinstitut DIW haben heute allerdings deutlich weniger Menschen mittlere Einkommen als vor rund 20 Jahren. Die Forscher untersuchten, wer 77 bis 130 Prozent des mittleren Einkommens verdient – und kamen zum Ergebnis: Diese Schicht schrumpfte von 48 Prozent Ende der 90er Jahre auf 41,4 in den Jahren 2014/15.

Und: Mehr Menschen sind abgehängt. Laut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung lebte zuletzt 5,4 Prozent der Bevölkerung dauerhaft unter der Armutsgrenze – Mitte der 90er waren es 3,1 Prozent, zehn Jahre später schon 5,2 Prozent. Forscher haben zudem errechnet, dass gut vier Millionen Menschen in Deutschland auf Dauer unter prekären Umständen leben und arbeiten, etwa Verkäufer in Billigschuhläden, Nachtpförtner oder alleinerziehende Krankenschwestern.

Auf der anderen Seiten zeigen Umfragen: Die Mehrheit ist zufrieden mit dem eigenen Leben. „Interessanterweise sind wir auf einem langjährigen Hoch angekommen – trotz dieser ganzen Debatten über so viel Unzufriedenheit und Ängste“, sagt der Magdeburger Soziologe Jan Delhey. Der Hauptgrund: die seit Jahren sinkende Arbeitslosigkeit. Laut einer Allensbach-Umfrage zur „Generation Mitte“ geht es 42 Prozent der 30- bis 59-Jährigen heute nach eigenen Angaben besser als vor fünf Jahren,  18 Prozent schlechter. Es gibt also Spaltungstendenzen – und in der Mittelschicht selbst zwei Gruppen, wie Forscherin Niehues sagt. „Die größere Gruppe, die etwa zwei Drittel der Mittelschicht ausmacht, zeichnet sich durch vergleichsweise wenig Sorgen und einen optimistischen Blick in die Zukunft aus.“ Bei der anderen, kleineren Gruppe von etwa einem Drittel der Mittelschicht aber bestünden viele Sorgen – wegen der Kriminalität, den Folgen der Zuwanderung und um den Erhalt des Friedens. Doch nur bei rund jedem Vierten dieser besorgten Bürger stünden Ängste wegen der eigenen ökonomischen Lage im Fokus.

  Autor Daniel Goffart (li.) diskutierte mit Sozialminister Hubertus Heil (SPD) über die Krise der Mitte.

Autor Daniel Goffart (li.) diskutierte mit Sozialminister Hubertus Heil (SPD) über die Krise der Mitte.

Foto: dpa/Monika Skolimowska

Die Mitte ist also bewegt und verändert sich. Und die Politik habe Verantwortung, sagt Heil. Vor allem für die digitale Zukunft.

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