Politische Paradoxie in Corona-Zeiten Eine Massenpanik, ein Innenminister und kein Rücktritt

Ankara · Nach einer eiligen Corona-Ausgangssperre in der Türkei stürmten die Menschen die Läden. Doch Präsident Erdogan hindert Minister Soylu, seinen Hut zu nehmen.

 Der türkische Innenminister Süleyman Soylu übernahm für das Debakel um die Corona-Ausgangssperre die Verantwortung und nahm Präsident Erdogan damit aus der Schusslinie. Der lehnte dann Soylus Rücktritt ab.

Der türkische Innenminister Süleyman Soylu übernahm für das Debakel um die Corona-Ausgangssperre die Verantwortung und nahm Präsident Erdogan damit aus der Schusslinie. Der lehnte dann Soylus Rücktritt ab.

Foto: dpa/Ahmet Bolat

Als die Ausgangssperre angeordnet wurde, gab es kein Halten mehr. Hunderttausende Türken stürmten am späten Freitagabend die Bäckereien, Lebensmittelläden und Supermärkte in ihren Stadtvierteln. Die Regierung hatte ihnen gerade einmal zwei Stunden Zeit gegeben, um sich vor Inkrafttreten des Ausgehverbots mit dem Nötigsten zu versorgen. Dicht gedrängt standen die Menschen vor den Geschäften, Vorsichtsmaßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus wie das Maskentragen und das Abstandhalten wurden ignoriert. Die Panikkäufe könnten den Kampf gegen die Pandemie um Wochen zurückgeworfen haben, sagte Tevfik Özlü, Mitglied im Wissenschaftlichen Corona-Beirat der türkischen Regierung: Die Bemühungen eines Monats seien dem Bedürfnis nach Cola und Brot zum Opfer gefallen.

Die Verantwortung für das Debakel übernahm Innenminister Süleyman Soylu. Mit der eilig angeordneten Ausgangssperre in Istanbul und 30 anderen Städten – Bevölkerungszentren mit 64 Millionen von insgesamt 80 Millionen Türken – wollte er eine starke Weiterverbreitung des Virus am sonnig-warmen Frühlingswochenende verhindern. Mit der Verkündung kurz vor Mitternacht am Freitag könnte Soylu aber genau das Gegenteil erreicht haben. Weder die Experten im Wissenschaftlichen Beirat noch Gesundheitsminister Fahrettin Koca waren laut Medienberichten in den Plan für die Ausgangssperre eingeweiht.

Die Massenpanik habe er nicht erwartet, sagte Soylu am Wochenende. Vor allem hatte der Minister nicht damit gerechnet, dass viele Geschäfte, die bei Bekanntgabe der Ausgangssperre am Freitagabend längst geschlossen hatten, angesichts des plötzlichen Kundenansturms rasch wieder aufmachen würden. Immerhin zeigte Soylus Ausgehverbot am Samstag und Sonntag große Wirkung. Istanbul war so still wie nie.

Dennoch zog Soylu die Konsequenzen und erklärte seinen Rücktritt. Mit seiner Erfahrung im Amt hätte er die chaotischen Szenen voraussehen müssen, betonte er. Indem er den Fehler auf die eigene Kappe nahm, schützte er auch Präsident Recep Tayyip Erdogan: In seinem Erlass für die Ausgangssperre am Freitag hatte Soylu noch aus­drücklich erklärt, alle Maßnahmen gegen das Coronavirus erfolgten auf Erdogans Anordnung.

Die Türkei verzeichnet derzeit rund 57 000 Coronavirus-Infektionen und etwa 1200 Todesopfer und ist nach Einschätzung von Experten noch Wochen vom Höhepunkt der Krankheitswelle entfernt. Die Regierung lehnt landesweite Ausgangssperren bisher aber ab, weil sie den Schaden für die Wirtschaft begrenzen will. Zudem leistet sie sich einen Kompetenzstreit mit oppositionsgeführten Stadtverwaltungen. Merak Aksener, Chefin der oppositionellen IYI-Partei, wirft Erdogan deshalb vor, er setze sich über Expertenrat hinweg und stelle seine politischen Interessen über die Gesundheit der Bürger. Soylu nahm alle Schuld für den Rückschlag vom Freitag auf sich und bat Erdogan um Entschuldigung. Der Präsident, der sonst kaum eine Gelegenheit zu öffentlichen Auftritten auslässt, war während der gesamten Debatte über das Chaos vom Freitag abgetaucht – offenbar wollte er nicht mit dem Versagen der Behörden in Verbindung gebracht werden. Doch nur wenige Stunden später ließ Erdogan erklären, er lehne Soylus Rücktritt ab. Der Minister sei weiter im Amt.

Der 50-jährige Soylu ist ein nationalistischer Hardliner und in Erdogans Partei AKP sehr beliebt. Dabei hatte er seine politische Karriere als Erdogan-Gegner begonnen. Als Chef der konservativen Demokratischen Partei kritisierte er Erdogan scharf und warf ihm vor, die Türken zu „betrügen“. Doch er wandelte sich zum Erdogan-Anhänger und wurde als Quereinsteiger bei der AKP zunächst Arbeits- und vor knapp vier Jahren schließlich Innenminister.

Seitdem hat er sich den Ruf eines effizienten Machers erworben, der im Kampf gegen die kurdische Terrororganisation PKK und bei der Verfolgung mutmaßlicher Teilnehmer des versuchten Staatsstreiches von 2016 hart durchgreift. Soylu ließ zehntausende afghanische Flüchtlinge deportieren und war nach Erdbeben und anderen Unglücken stets medienwirksam vor Ort. Mit seinen Erfolgen ist der Innenminister im Kampf um die Erdogan-Nachfolge zum Rivalen des Präsidenten-Schwiegersohnes und Finanzministers Berat Albayrak geworden.

Nach Soylus Rücktrittsankündigung bekundeten viele Nationalisten ihre Unterstützung für den Minister. Unter den Soylu-Anhängern waren auch Mitglieder des AKP-Flügels „Pelikan“, einer Gruppe von Ultranationalisten, denen großer Einfluss auf Erdogan nachgesagt wird. Dass Erdogan an seinem Innenminister festhält, gibt Soylu weiteren Auftrieb, sagen Beobachter. „Soylu ist jetzt im Kabinett und in der AKP noch stärker“, schrieb der angesehene Journalist Murat Yetkin auf seinem Blog Yetkinreport. Am kommenden Wochenende wird eine erneute Ausgangssperre in der Türkei erwartet.

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