Ritual statt Fortschritt

Meinung · Es ist eines jener Rituale, das Europa nicht braucht. Der turnusmäßige Wechsel des Ratsvorsitzes soll Führung suggerieren, die nicht stattfindet. Sieht man von den klimapolitischen Weichenstellungen der letzten deutschen Präsidentschaft 2007 ab, so gab es in den vergangenen Jahren nichts mehr, was eine Erinnerung lohnt

Es ist eines jener Rituale, das Europa nicht braucht. Der turnusmäßige Wechsel des Ratsvorsitzes soll Führung suggerieren, die nicht stattfindet. Sieht man von den klimapolitischen Weichenstellungen der letzten deutschen Präsidentschaft 2007 ab, so gab es in den vergangenen Jahren nichts mehr, was eine Erinnerung lohnt. Diese EU hat mit einem neuen Vertrag und unter dem Druck der Krise einen Schritt nach vorn getan, zu dem das Trugbild eines echten Vorsitzes durch die Mitgliedstaaten nicht mehr passt.Der Versuch der 27 Länder, sich gegenseitig zu kontrollieren und auf elementare Selbstverständlichkeiten wie solide Staatsetats zu verpflichten, ist gescheitert. Auch das ist eine Ursache für die Krise. Inzwischen nimmt das dümpelnde Schiff EU zwar wieder Fahrt auf. Aber das hat wenig bis nichts mit einem vermeintlichen Erfolg der ablaufenden polnischen oder der kommenden dänischen Ratspräsidentschaft zu tun. Ohne die Führung durch starke, gewichtige Mitglieder wie Deutschland und Frankreich wären wir nicht an dem Punkt, wo eine Wende zumindest möglich scheint.

Europa hat nämlich kein Jahr hinter sich, das als ruhmreich in die Geschichte eingehen wird. Zerstritten, egoistisch, teilweise durch unverantwortliches Zögern und national bedingtes Herumeiern gebremst - viele Schritte wären früher und auch konsequenter möglich gewesen. Nicht nur in der EU war ein Umbruch nötig, auch an der Spitze zahlreicher Mitgliedstaaten musste erst einmal die Ära selbstherrlicher und egozentrischer Persönlichkeiten zu Ende gehen, bis wieder Fachleute das Sagen hatten. Denen muss man nicht erst beibringen, wie eine Wirtschafts- und Währungsunion funktioniert. Und dass Kassen grundsätzlich leerer werden, wenn man mehr ausgibt, als man hat. Sie verstehen auch, dass Mahnungen aus Brüssel wenig mit Böswilligkeit, aber viel mit gemeinsamer Stabilität zu tun haben. Da ist inzwischen einiges, aber nicht genug geschehen. Die Liste der Länder, in denen Reformen unerlässlich sind, umfasst immer noch zu viele Namen.

Umso wichtiger wäre eine klare Führungsstruktur, die nicht auf einem schwach wirkenden Ratspräsidenten und einem oft ungeschickt agierenden Kommissionspräsidenten aufbaut. Die EU braucht eine unabhängige, neutrale Spitze mit durchgreifenden Kompetenzen. Sie braucht einen Präsidenten, der von allen 320 Millionen Wahlberechtigten in 27 Mitgliedstaaten gewählt wird. Und sie braucht ein Parlament, das nicht per Handstreich aus dem Gesetzgebungsverfahren gefegt werden kann. All das gibt es nicht, dafür aber Rituale wie den halbjährlich wechselnden EU-Vorsitz. Bei allem Respekt vor jedem Land, das die Aufgabe übernimmt: Diese Zeremonie hat sich überlebt und ist schlicht überflüssig.

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