"Wir sind das Volk" oder: Das Ende der Basta-Politik

Berlin. Kein einzelner Mensch, sondern "der Demonstrant" ist für das US-Magazin "Time" die Person des Jahres 2011. Die Redaktion dachte dabei in erster Linie an die Protestbewegung in den arabischen Ländern, doch der Demonstrant könnte ohne weiteres auch in Deutschland zur Person des Jahres ausgerufen werden

Berlin. Kein einzelner Mensch, sondern "der Demonstrant" ist für das US-Magazin "Time" die Person des Jahres 2011. Die Redaktion dachte dabei in erster Linie an die Protestbewegung in den arabischen Ländern, doch der Demonstrant könnte ohne weiteres auch in Deutschland zur Person des Jahres ausgerufen werden. So viel demonstriert wurde lange nicht mehr - ob nun gegen Stuttgart 21, Atomkraft oder die Macht der Finanzmärkte ("Occupy Wall Street").Dabei gibt es einen wesentlichen Unterschied: In vielen Ländern waren die Demonstrationen Ausdruck einer Systemkrise, in Deutschland nicht. Zwar fühlen sich viele Demonstranten von etablierten Parteien nicht mehr vertreten. Doch die Folge davon ist gerade keine Politik- oder gar Demokratie-Verdrossenheit. Im Gegenteil: Die Bürger reagieren, indem sie sich innerhalb des Systems verstärkt engagieren. "Erstarrt oder eingefroren ist da nichts", meint der Berliner Historiker Paul Nolte. Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie hat sich "die politische Kultur in Deutschland in diesem Jahr erheblich verändert", und CDU-Urgestein Heiner Geißler bilanziert: "Wir haben jetzt eine Kultur, die endlich das realisiert, was in unserer Verfassung steht: Alle Gewalt geht vom Volke aus."

Ist das Parteiensystem folglich in der Krise? Die FDP ist es mit Sicherheit, die Volksparteien sind es vielleicht, die Grünen wohl kaum. Und ganz bestimmt sind es die erst vor fünf Jahren gegründeten Piraten nicht. Oft als Protestformation beschrieben, besetzt die Partei zunächst einmal ein Sachthema: Transparenz im Zeitalter der digitalen Revolution. "Die Parteienlandschaft entwickelt sich immer dann, wenn ein bestimmtes Problem nicht aufgegriffen wird", erläutert der Parteienforscher Gero Neugebauer. "Die Erfolge der Grünen wie der Piraten beweisen die Beweglichkeit des Parteiensystems und das Existenzrecht der Parteien." Neu ist die Geschwindigkeit, mit der sich alles verändert. Das Internet und dort besonders die sozialen Netzwerke hätten den Takt der Politik "ungeheuer beschleunigt", meint der Historiker Norbert Frei.

Die verlorene Volksabstimmung der Stuttgart-21-Gegner zeigt aber auch, dass der Ruf "Wir sind das Volk" so absolut nicht immer stimmt. In diesem Fall mussten die Wutbürger feststellen, dass die Mehrheit der Baden-Württemberger nicht ihrer Meinung war. Doch in der Folge wird der Ruf nach Bürgerbeteiligung sicher nicht verklingen, im Gegenteil: Formen direkter Demokratie dürften zunehmen. "In vielen Ländern werden entsprechende Gesetze vorbereitet", sagt Leggewie. Die Energiewende beispielsweise sei nur zu schaffen, wenn man "die Bürgerschaft von vornherein beteiligt. Von oben wird man Trassen und Windparks nicht durchsetzen können."

Bei so viel Mitsprache befürchten manche schon die völlige Lähmung und fordern: "Weniger Demokratie wagen!" Heiner Geißler, der die Wutbürger dieses Jahr nur zu gut kennenlernte, widerspricht vehement. Gerade wenn die Bürger nicht beteiligt würden, drohe ein Stillstand. "Hätte man die Bevölkerung in Stuttgart von Anfang an konsequent mit hinzugezogen, hätten wir den Bahnhof spätestens 2008 einweihen können", sagt Geißler. Für ihn ist "die Zeit der Basta-Politik" endgültig zu Ende.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort