In der Türkei geht die Saat des Hasses auf

Istanbul · Tarih Elci hatte viele Feinde. Als der 49-jährige Chef der Anwaltskammer von Diyarbakir am Samstag eine Presseerklärung in einer Gasse der südosttürkischen Kurdenstadt verlas, standen deshalb zwei bewaffnete Zivilpolizisten im Pulk der Journalisten.

Der Anwalt forderte ein Ende der Gewalt zwischen der Türkei und der kurdischen Rebellengruppe PKK . Wenige Minuten später war er tot.

Für seine Erklärung hatte Elci das "Vierbeinige Minarett" in der Altstadt gewählt, ein historisches Bauwerk, das bei Gefechten zwischen Polizei und PKK-Leuten beschädigt worden war. Noch während er sprach, fielen in der Nähe mehrere Schüsse. Mutmaßliche PKK-Mitglieder hatten das Feuer auf Polizisten eröffnet, dann rannte einer der Täter in die Gasse, in der Elci und die Journalisten standen. TV-Bilder zeigten, wie die beiden Zivilpolizisten auf den Fliehenden schießen - sie zielten genau in Elcis Richtung.

Regierungschef Ahmet Davutoglu machte zwar die PKK für den Tod des Anwalts verantwortlich. Doch er ließ durchblicken, dass die tödliche Kugel, die Elci in den Nacken traf, nicht unbedingt von einem PKK-Kämpfer abgegeben wurde: Möglicherweise sei er Opfer eines "Unfalls" im Zuge des Schusswechsels geworden, sagte der Premier. Ob der Tod des Juristen jemals aufgeklärt wird, ist unsicher. Staatsanwälte und Beamte der Spurensicherung wurden am Tatort von PKK-Anhängern beschossen und mussten ihre Arbeit abbrechen. Doch eine objektive Aufarbeitung des Zwischenfalls ist für Hardliner auf beiden Seiten des Kurdenkonflikts ohnehin Nebensache.

Innerhalb von Minuten wurde Elcis Tod zum Propaganda-Gegenstand. Regierungsnahe Medien sprachen sofort vom PKK-Mord an einem Kritiker. Dagegen stand für prokurdische Medien und Politiker fest, dass der Staat einen Killer geschickt hatte, um Elci zu erledigen. Der Anwalt war bei türkischen Nationalisten, Anhängern der Regierung und in PKK-Kreisen gleichermaßen unbeliebt. Als sich Elci kürzlich in einer Fernsehsendung weigerte, die PKK als Terrorgruppe zu verdammen, wurde er vorübergehend festgenommen und erhielt Morddrohungen. Doch der Anwalt kritisierte zugleich auch die PKK-Taktik, kurdische Städte mit Gräben und Barrikaden unpassierbar zu machen.

Zur Beisetzung des 49-Jährigen kamen gestern tausende Menschen. Unter ihnen Spitzenvertreter von Anwaltsverbänden aus der ganzen Türkei, Kurdenpolitiker und andere Regierungskritiker - aber kein einziger Minister aus Ankara. Stattdessen kommentierte der regierungsnahe Akademiker Ahmet Akgündüz Elcis Tod mit den Worten, wer mit dem Schwert lebe, sterbe eben auch durch das Schwert.

Dass selbst friedfertige Aktivisten und Gewaltopfer wie Elci derart zynisch denunziert werden, zeigt das Ausmaß des Hasses mancher Regierungsanhänger auf die Kurden. Schon nach dem Doppel-Anschlag des IS auf eine Kundgebung von Kurden und Linken im Oktober, bei dem mehr als hundert Menschen starben, sprachen Kritiker von einem Massaker im Auftrag des Staates. Präsident Recep Tayyip Erdogan dagegen beschuldigte allen Ernstes ein Bündnis aus IS, PKK und dem syrischen Geheimdienst. Nach Elcis Tod fallen die Reaktionen ähnlich aus. Gemeinsames Trauern und gemeinsame Suche nach den Tätern sind in der Türkei des Jahres 2015 ausgeschlossen. "Dieser Staat war noch nie unser aller Staat", resümiert der Chef der Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtas.

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