In der Türkei geht die Saat der Polarisierung auf

Istanbul · Der türkische Vizepremier Bülent Arinc ist schon lange im Geschäft. Doch selbst er zeigte sich kürzlich geschockt vom Ausmaß der Spaltung der türkischen Gesellschaft in bedingungslose Anhänger und erbitterte Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan und dessen Regierungspartei AKP.

Früher verspürte er bei den Gegnern der AKP im Land noch Respekt für die Regierung. "Heute bemerke ich Blicke voller Hass."

Dieser Hass zwischen beiden Lagern könnte kurz vor der Parlamentswahl am 7. Juni angesichts der jüngsten Terrorakte von links und dem Umgang damit weiter wachsen. Gestern wurde nach Behörden-Angaben das Polizeipräsidium in Istanbul von zwei Terroristen angegriffen. Eine Frau habe eine Bombe am Körper getragen und sei von Sicherheitskräften getötet, ein zweiter Angreifer verletzt gefasst worden. Schon am Dienstag hatten zwei Mitglieder der linksextremen Gruppe DHKP-C in Istanbul den Staatsanwalt Mehmet Selim Kiraz als Geisel genommen. Sie wollten damit gegen die Verschleppung von Ermittlungen gegen Polizisten protestieren, die bei den Protesten im Istanbuler Gezi-Park von 2013 den Teenager Berkin Elvan mit einer Tränengaskartusche tödlich am Kopf trafen. Bis heute gibt es hierzu keine Anklage. Elvans Schicksal ist für Regierungsgegner zu einem Symbol für ungestrafte Polizeigewalt geworden; dagegen sieht Erdogan in dem Jungen einen Terroristen .

Die Polizei beendete am Dienstag die Geiselnahme, erschoss die beiden Täter. Auch Staatsanwalt Kiraz wurde verletzt und starb. Statt aber den Terror zu verurteilen, bezichtigten sich Regierungsanhänger und -gegner gestern gegenseitig, von dem Gewaltexzess Linksextremer profitieren zu wollen. Gleichzeitig gehen die Behörden gegen mutmaßliche Sympathisanten der Geiselnehmer vor. So nahm die Polizei in Istanbul fast 40 Studenten fest, die an einer Gedenkfeier für einen der getöteten Geiselnehmer teilnahmen.

Erdogan attackierte gestern regierungskritische Medien, die den Tätern "die Hand gereicht" hätten. Die Behörden schlossen einige Zeitungen, die ein Foto der Geisel mit der Pistole eines Geiselnehmers am Kopf verbreitet hatten, von der Beisetzung des Staatsanwalts aus. Der regierungskritische Journalist Bülent Kenes kommentierte sogleich, selbst bei einer Trauerfeier spalte die Regierung das Land.

Auf der einen Seite betrachten die Mitglieder der Gezi-Protestbewegung die Regierung mit großem Misstrauen. Auf der anderen Seite, so unken Beobachter, sind die Führung in Ankara und deren Anhänger überzeugt, dass der Regierung ständig die Entmachtung durch den Druck der Straße droht. Die Erdogan-treue Zeitung "Yeni Akit" titelte gestern: "Die Gezi-Anhänger haben den Staatsanwalt getötet." Der Oppositionspolitiker Aykut Erdogdu dagegen vermutet finstere Machenschaften des Regierungslagers hinter der Geiselnahme.

Erdogan, der es bisher in jedem Wahlkampf verstanden hat, die eigenen Anhänger durch die Verteufelung der Gegner zu motivieren, griff die Opposition wegen deren Kritik an mangelnden Sicherheitsvorkehrungen im Gerichtsgebäude von Istanbul scharf an. Die Parteien sollten endlich eine "nationale Haltung" einnehmen. Der Präsident ist weit davon entfernt, die Rolle des Spalters abzulegen und die des Versöhners anzunehmen.

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