Analyse Von Nazi-Vergleichen zum Schmusekurs

ISTANBUL (dpa) Im vergangenen Jahr noch hat Recep Tayyip Erdogan Kanzlerin Angela Merkel persönlich „Nazi-Methoden“ vorgeworfen. Es war ein Tiefpunkt der deutsch-türkischen Beziehungen.

 Kurz vor seinem Deutschland-Besuch setzt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf entspannte Beziehungen.

Kurz vor seinem Deutschland-Besuch setzt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf entspannte Beziehungen.

Foto: dpa/Burhan Ozbilici

Jetzt wünscht sich der Präsident kurz vor einem Staatsbesuch in Deutschland das „vollständige Ende“ der Spannungen mit Deutschland. Ein Grund für die Wende ist wohl das schwere Zerwürfnis mit den USA wegen eines in der Türkei festgehaltenen amerikanischen Pastors. US-Sanktionen haben das Land in eine schwere Währungskrise getrieben. Nun sieht die Türkei ihr Heil in der Verbesserung der Beziehungen zu Europa und vor allem zu Deutschland als dem wichtigsten Handelspartner. Der Wechsel von maximaler Schärfe hin zum Schmusekurs zeigt vor allem eines: Der Präsident ist ein Pragmatiker. Auch das hat dem Ausnahmepolitiker dabei geholfen, so lange an der Macht zu bleiben.

Seit rund 16 Jahren bestimmt Erdogan (64) die Geschicke der Türkei. Als seine islamisch-konservative AKP im Juni 2015 die absolute Mehrheit im Parlament verlor, ließ er kurz darauf neu wählen. Prompt waren die alten Machtverhältnisse wieder hergestellt. Bei der Präsidentenwahl Ende Juni gewann Erdogan mit rund 53 Prozent – und das obwohl die sonst eher glanzlose Opposition einen formidablen Wahlkampf hingelegt hatte. Seitdem ist Erdogan an der Spitze des von ihm neu geschaffenen Präsidialsystems sowohl Staats- als auch Regierungschef. Die Reaktionen aus Deutschland auf Erdogans neue, sanfte Töne sind allerdings verhalten. Aus dem Präsidialamt in Berlin hieß es, bis neues Vertrauen wachse, sei es „noch ein weiter Weg“. Denn aus Sicht des Westens hat sich Erdogan dramatisch gewandelt.

2004 war er als Ministerpräsident noch zum „Europäer des Jahres“ gekürt worden. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) lobte ihn für sein „Eintreten für mehr Freiheit, einen besseren Schutz der Menschenrechte und weniger staatliche Bevormundung“. Aus Sicht von Kritikern steht Erdogan heute gegen alle diese Werte.

Nach dem Putschversuch von 2016 hat er während eines zwei Jahre andauernden und erst in diesem Sommer beendeten Ausnahmezustands Zehntausende Menschen als angebliche Staatsfeinde und Terroristen festnehmen lassen. Rund 140 000 Menschen wurden aus dem Staatsdienst entlassen. Die Maßnahmen trafen aber auch Journalisten, Menschenrechtler und Intellektuelle, die sich kritisch geäußert hatten. Auch heute gehen die Verhaftungen und Entlassungen weiter.

Nach den Wahlen vom Juni hat Erdogan mit einer Vielzahl von Dekreten – für die er nun die Zustimmung des Parlaments nicht mehr braucht – außerdem den Staat nach seinem Willen umgebaut und dabei viele Befugnisse gleich in sein eigenes Präsidialamt hinübergeschaufelt. Die Zahl der Ministerien hat er zusammengeschrumpft. Oppositionspolitiker warnen vor einer „Ein-Mann-Herrschaft“.

Erdogan ist verheiratet und hat vier Kinder. Er hat eine steile Karriere hingelegt, die ihm nicht in die Wiege gelegt wurde. Erdogan wurde 1954 im Istanbuler Armenviertel Kasimpasa geboren. Als Junge verkaufte er auf der Straße Wasser und Sesamkringel, um zum Familienunterhalt beizutragen.

Politische Meriten verdiente er sich von 1994 an als Bürgermeister von Istanbul. Dreimal war er später Ministerpräsident. Weil er das Amt nach den AKP-Statuten kein viertes Mal hätte übernehmen können, ließ er sich 2014 zum Präsidenten wählen. Bislang konnte Erdogan nichts stoppen – weder der Putschversuch noch die Währungskrise.

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