Der Magnet Familie

Meinung · Neun von zehn Deutschen feiern Weihnachten laut einer Umfrage in der Familie. Und das, obwohl kaum mehr jeder Dritte in einer traditionellen Familienstruktur lebt: 2009 zählte man in Deutschland fast 40 Prozent Single-Haushalte. Trotzdem oder gerade deshalb treibt es die Menschen über die Festtage geradezu instinktiv zueinander, zu Eltern, Tanten und Cousins

Neun von zehn Deutschen feiern Weihnachten laut einer Umfrage in der Familie. Und das, obwohl kaum mehr jeder Dritte in einer traditionellen Familienstruktur lebt: 2009 zählte man in Deutschland fast 40 Prozent Single-Haushalte. Trotzdem oder gerade deshalb treibt es die Menschen über die Festtage geradezu instinktiv zueinander, zu Eltern, Tanten und Cousins. Warum? Wenn sich doch nicht selten Lametta auf Lüge reimt, das "Oh du Fröhliche" ins Schweigen oder Keifen kippt?Die Magnetwirkung der Familie hat viel mit sozialen Leitbildern zu tun, die ihre Wurzeln im Ideal der "Heiligen Familie" haben, das die Kunstgeschichte transportierte: Märchen-Szenarien von Harmonie, Zugehörigkeit, menschlicher Nähe. So entwickelte sich eine Überbetonung von Weihnachten als Fest eines engen Kreises, in dem Außenstehende nicht wirklich willkommen sind oder aber Außenseiter bleiben. Eine kaum überwindbare Hürde für Menschen ohne direkten Familien-Zugang. Weihnachten wird für sie zur Belastungsprobe. Zumal der Anti-Einsamkeits-Helfer Internet versagen dürfte. Denn das "Netz" mag zwar im Alltag durch Blogs, Foren und Plattformen die Illusion nähren, einer Gemeinschaft anzugehören. Doch an gefühlsbeladenen, intimen Tagen wie Weihnachten werden all die "Friends" (Freunde) und "Followers" (Gefährten) schnell als das enttarnt, was sie wirklich sind: von Interessen gesteuerte Kurzzeit-Begleiter. Beziehungslosigkeit aber lässt sich an Weihnachten noch schwerer ertragen als sonst.

Generell scheint die Sehnsucht nach Anteilnahme und Engagement zu wachsen. Es musste 2010 nicht erst Weihnachten werden, um uns das zu verdeutlichen. Die Menschen finden eben nicht mehr nur als digitales Volk zusammen, sondern auch auf der Straße, wo sie sich an den Händen fassen. Dafür steht alles überragend Stuttgart 21, aber auch die spontane Unterschriften-Sammlung hier im Saarland für zwei beliebte Sänger. Trügt der Eindruck, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Explosion von flüchtig gelebten Internet-Verbindungen und einem offensichtlich immer drängenderen Wunsch nach tiefen Begegnungen? Menschen suchen verstärkt soziale Nähe, um demokratische Verantwortung zu leben - und stiften als "Wutbürger" Unfrieden.

An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu Weihnachten. Das Fest verspricht eine "friedliche", eine stille Zeit, also Entlastung vom oftmals feindlichen Ton des öffentlichen Miteinanders. Insofern ist das Streben nach Kuschel-Atmosphäre, Zuneigung und Konfliktfreiheit nicht etwa sentimental und verkitscht, sondern legitim - als ein Wunsch unserer Tage.

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