Weltweit wichtigste Kunstausstellung So lasst uns denn ein Zeichen setzen

Kassel · Ein Rundgang über die Kasseler Documenta14, wo die Kunst allzuoft in den Dienst der Weltverbesserung gestellt wird.

 Die Kasseler Torwache am Brüder-Grimm-Platz hat der ghanesische Künstler Ibrahim Mahama mit einer riesigen Stoffbahn aus zusammengenähten Jutesäcken aus seiner afrikanischen Heimat verhüllt, in denen Kaffee und Kakao in den Westen exportiert wurden.

Die Kasseler Torwache am Brüder-Grimm-Platz hat der ghanesische Künstler Ibrahim Mahama mit einer riesigen Stoffbahn aus zusammengenähten Jutesäcken aus seiner afrikanischen Heimat verhüllt, in denen Kaffee und Kakao in den Westen exportiert wurden.

Foto: Documenta/Documenta/Kassel

Das Wichtigste in Kassel ist Zeit. Studierzeit. Weil viele der Documenta-Arbeiten sich nicht von selbst erschließen, sondern erarbeitet werden wollen. Anders als die einfach zu dechiffrierenden 20, je zehn Meter langen Kanalrohre, die der mittlerweile in Berlin lebende irakische Kurde Hiwa K auf dem Friedrichsplatz zu einem Block hat aufschichten und von Kasseler Designstudenten „einrichten“ lassen. Mit Waschbecken, Kacheln und Zahnputzbechern oder mit Matratze und Leselampe. Gemütliche Flüchtlingsbehausungen, denkt man. Was zynisch klingt, ist von Hiwa K auch so gemeint. Eigentlich wollte er sie während der Documenta über Air­BnB vermieten lassen, was nicht erlaubt wurde.

Liest man nach. Selbst hier hilft googlen. Um über Hiwa K eine Erklärung zu finden: „Wir im Kapitalismus sind besessen von der Vertikalen“, wird Hiwa K dort zitiert. „Aber wenn Du in so einem Kanalrohr lebst, dann merkst Du ganz schnell, welche Dinge dir wirklich etwas bedeuten.“ Seine Installation ist keine Migrationsfolklore, sondern über Bande gespielte Kapitalismuskritik. Und auf den zweiten Blick vielschichtiger als die andere, sehr viel plakativere Groß-Installation auf dem Friedrichsplatz: Marta Minujíns Akropolis-Tempel-Baugerüst-Nachbau „Parthenon of books“ aus Abertausenden eingeschweißten Büchern, die irgendwo irgendwann auf der Welt zensiert wurden. Wer die Probe aufs Exempel macht, sieht, dass jedes Werk dutzendfach „verbaut“ wird. An diesem Unspezifischen krankt diese entsetzlich platte, beifallssicher „Wider die Diktaturen dieser Welt!“ rufende Arbeit, auf die sich dennoch alle mit ihren Handys stürzen. Reicht es heute schon, wenn Kunst fotogen und gewaltig ist?

Drinnen in der Documenta-Halle folgt gleich die nächste Beliebigkeit: eine maximal unsinnliche Rauminstallation aus Fotos, Preis-Trophäen, Kleidern und Plattencovern, die an den 2006 gestorbenen afrikanischen Gitarristen Ali Farka Touré erinnert. Er stammte aus Timbuktu, im Westen das sprichwörtliche Ende der Welt. Weshalb uns ein Zitat Tourés darüber belehrt, dass das „right at the heart of the world“ ist. Aha. Es folgt eine Abordnung geschnitzter Großmasken von Beau Dick (1955-2017) aus dem indianischen Volk der Kwakwaka’wakws auf Cormorant Island (Kanada), die normalerweise am Ende ihrer Tanzrituale verbrannt werden. Sollen wir das unter Minderheitenschutz oder – wie das uns ein ergoogelter biografischer Abriss von Beau Dicks Tun nahelegt – unter Kolonialismuskritik verbuchen? Das ist immer wieder das Problem dieser documenta 14: Sie instrumentalisiert in gewisser Weise die Kunst. Sie predigt mit großer Geste im Zeichen des Ethnorelativismus das Mantra der Vielfalt und bleibt dabei oftmals auf halber Strecke im Exotismus stecken. Oder im Bekenntnishaften. Denn gleichzeitig geißelt sie nach Kräften die bis in fast jeden letzten Weltwinkel reichenden Folgen des westlichen Universalismus und will uns die Augen öffnen: Seht nur, wo überall Unterdrückung und Unrecht herrschen! Ob Guilermo Galindos von der Decke hängende Rümpfe von auf Lesbos angespülten Flüchtlingsbooten, die der mexikanische Komponist mit Klaviersaiten bespannt. Oder die zum Vorhang aufgereihten Rentierschädel von Máret Ánne Sara aus dem Volk der Sámi, die auf Geheiß der norwegischen Regierung ihre Rentierherde dezimieren musste: Kassel erschlägt mit einem Übermaß an ästhetisch zweitrangiger Kunst im Dienst der indigenen political correctness.

Dann aber steht man in einem Raum mit Malerei der Schweizerin Miriam Cahn (67). Und sieht auch die andere Seite dieser Documenta: Kunst, die ohne theoretischen Überbau aus sich spricht und lange nachwirkt. Cahn kombiniert in ihren rahmenlos an die Wand genagelten Groß- und Kleinformaten in giftig wirkenden Farben Nacktheit und Gewalt. Zeigt nackte Musliminnen, erigierte Geschlechtsteile, maskenhafte Gesichter, unheilvolle (Körper-)Waffen – eine abgründige, unter die Haut fassende Malerei. Zwei Räume weiter berührt in der Haupthalle eine 23,5 Meter lange, hinreißende Stickarbeit von Britta Marakatt-Labba, wie Máret Ánne Sara aus dem Volk der Sámi stammend. „Historja“, 2003 bis 2007 entstanden, erzählt in entwaffnender Feinheit auszugsweise die Geschichte der Sámi. Hier ist sie endlich einmal, die auratische Kraft von Kunst, die dank ihres universellen Ausdrucks immun ist gegen ihre Indienstnahme für wohlfeile Theorie-Überbauten. Die in Kassel Konjunktur haben, wie gleich daneben wieder Abobakar Fofanas indigofarbene Tücher offenbaren, die sich ohne ihren textlich mitgelieferten, ganzheitlichen Kontext nicht erschließen.

Vier Hauptorte, bei 34 über die Stadt verteilten Stationen insgesamt, gibt es: neben der Documenta-Halle das zum Showroom für die Sammlung von Athens zeitgenössischem Museum zweckentfremdete Fridericianum und die Neuen Galerie, wo die Kuratoren einen Spagat vollführen von der Frührenaissance über den Idealismus bis zur Raubkunst (mit dem Nachlass von Cornelius Gurlitt als Bezugsrahmen). Bleibt als vierter Fixpunkt die in „Neue Neue Galerie“ umgetaufte, leerstehende Neue Hauptpost – ein brutalistischer Bau, der als Briefzentrum ausgedient hat. In seiner hallenartigen Aufteilung und rohen Funktionalität ganz nach dem Geschmack heutigen Kunstbetriebes.

Auch hier fehlen nicht die einen roten Documenta14-Faden bildenden indigenen Einsprengsel: Empfangen wird man von einem riesigen Wandgemälde des australischen Aborgines Gordon Hookey (56), das comicartig die Vertreibungsgeschichte seines Volkes zeigt. Jeder Versuch, ansonsten das hier ausgestellte, ach so neue, Spektrum künstlerischer Prozesse zu skizzieren, scheitert. Zu divergierend ist alles, um größere Linien auszumachen. Einzelne Arbeiten bleiben haften: Die palästinensische Fotografin Ahlam Shibli dokumentiert in 50 (neue) „Heimat“-Porträts das heutige Leben diverser Religionsgemeinschaften in der Kasseler Nordstadt als pars pro toto der Realität eines Einwanderungslandes namens Deutschland. Ulrich Wüst (68) ist mit einer Serie begnadeter Schwarzweiß-Aufnahmen vertreten, die vor und nach der Wende eine Art ganzjährigen Herbst (meist im Raum Magdeburg) zeigen, ein Desillusionsgebiet. Der Thailänder Arin Rungjang verknüpft in einer bezwingenden Videoarbeit NS-Zeit und thailändische Geschichte: Im Off hören wir die Erinnerung des thailändischen Generalkonsuls an seinen (ihn beeindruckenden) Besuch bei Hitler, dazu sehen wir am Ort des einstigen Führerbunkers (heute ein unscheinbarer Parkplatz in Berlin) eine elegische Choreografie zweier Balletttänzer.

Nicht zu vergessen zwei gleichermaßen monomanische wie nachhaltige Arbeiten: Das Londoner Kollektiv „Forensic Architecture“ hat in kriminalistischer Akribie den Kassler NSU-Mord an dem 21-jährigen Halit Yozgat rekonstruiert, der 2006 in seinem Internetcafé erschossen wurde. In Endlosschleife läuft ihr Film in der Hauptpost. Im Kern geht es darin um die Frage, ob ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes entgegen seiner gerichtlichen Aussagen Zeuge des Mordes wurde. Das von den Vereinten Nationen, internationalen Strafverfolgungsbehörden und Menschenrechtsorganisationen finanzierte wissenschaftliche Rechercheprojekt kommt zum Ergebnis, dass der V-Mann gelogen hat.

Künstlerisch besticht, wenige Schritt davon entfernt, ein zweiter Fall von belohnter Ausdauer: Daniel García Andújars aus zahllosen Einzelwerken bestehende Rauminstallation „The Disasters of War/Trojan Horse“ geht auf ein Langzeitprojekt zurück, für das der spanische Künstler aus seinem 1989 bis 2001 angelegten, 250 000 Dateien umfassenden Archiv zum Themenkomplex „Gewalt und Widerstand“ schöpft. Andújar paart Digitalzeichnungen zum Thema Folter mit einem Bild-Text-Glossar der faschistischen Grammatik LTI – Lingua Tertii Imperii oder kontrastiert Brechts „Kriegsfibel“ mit perfiden Durchhalte- und Warnparolen auf Emailleschildern. Mitunter endet dies zwar in einem Overkill historischer Querverweise. Doch ist Daniel García Andújars Betriebssystem-Mensch-Analyse ihr Studieren wert.

Die Geduld des Documenta-Publikums, das auch an solchen Arbeiten nicht einfach vorbeilatscht, sondern Durchhaltevermögen zeigt, versöhnt mit dieser Documenta. Auch wenn sie, wenn man ein Fazit wagen kann, ihren alten Anspruch, alle fünf Jahre die weltweit wichtigsten Kunstpositionen zu zeigen, nicht einlöst. Dazu zeigt sie, zu sehr umgetrieben von ideologisch aufgeladener Welthaftigkeit, zu wenig künstlerisch Herausragendes.

Bis 17. September. Täglich von 10-20 Uhr. Öffentliche Orte sind 24 Stunden täglich zugänglich. Tageskarte: 22 €/ermäßigt 15 €. Zweitageskarte: 38 €/ermäßigt 27 €, Schulklassen: 6 € pro Schüler.

 Masken von Beau Dick (1955-2017), genutzt für rituelle Tänze seines Volkes, der Kwakwaka’waks auf Cormorant Island (Kanada).

Masken von Beau Dick (1955-2017), genutzt für rituelle Tänze seines Volkes, der Kwakwaka’waks auf Cormorant Island (Kanada).

Foto: Documenta/Roman Maerz
 Ein Gemälde der Schweizerin Miriam Cahn (67), deren Arbeiten zu den Interessantesten in Kassel gehören.

Ein Gemälde der Schweizerin Miriam Cahn (67), deren Arbeiten zu den Interessantesten in Kassel gehören.

Foto: Documenta/Roman März

Infos zu allen Künstlern/Ausstellungsorten/Aktionen/Routen unter: www.documenta14.de

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