Menschenfreund statt Klassenfeind: Platonows Roman „Die Baugrube“
Saarbrücken · 1930 geschrieben und jahrzehntelang verboten, erzählt der Roman „Die Baugrube“ vom Leben und Leiden in Stalins Sowjetunion. Das Buch erscheint nun in einer phänomenalen Neuübersetzung.
Die Avantgarde will für alle das Beste. Wenige schließen sich ihr an, einige lassen sich überzeugen. Die Masse hat die Wahl: Entweder sie macht mit oder sie wird "als Klasse" vernichtet. Das ist das historische Szenario im Jahr zwölf nach der Großen Oktoberrevolution in der Sowjetunion zu Stalins Zeiten. Mit Schwung wird der Neue Mensch propagiert, ohne Rücksicht auf Gewachsenes entsteht eine neue bürokratische Sprache, der Fortschritt ist gewaltig und gewalttätig. Die Historiografie dieser Zeit hat fast alles ans Tageslicht gefördert. Einer hat es aufgeschrieben, ein Zeitzeuge, ein Ingenieur mit dem Genius für Literatur: Andrej Platonow, Jahrgang 1899. Sein 1930 geschriebener, damals nicht veröffentlichter Roman "Die Baugrube" ist jetzt in einer phänomenalen Neuübersetzung erschienen. Gabriele Leupold hat das regelverletzende Russisch des Originals in ein ebenso Korrektheit vermeidendes Deutsch übertragen, dass es einem die Sprache verschlägt. Dieser "Stil" schafft eine verstörende Symbiose mit dem Inhalt: An der Baugrube arbeiten Hunderte am Neuen Haus für die Menschen im Kommunismus. Im Dorf nebenan werden die Kulaken, Bauern, die ihr eigenes Land bewirtschaften, in den "Kolchos" gezwungen.
Die zentrale Figur ist der gerade aus einer Fabrik entlassene Woschtschew. Er war wohl kein guter Arbeiter und mischt sich unter die Leute an der Baugrube. Erst grübelt er über die Wahrheit, über den Sinn von allem, dann reiht er sich im Kollektiv ein.
Plantonow schreibt keine Literatur aus der Arbeitswelt, keinen Produktionsroman. Er flicht in die Dialoge zwischen den einander enttäuschend fremd bleibenden Genossen immer wieder Gedanken und Wortfetzen aus Reden Stalins oder aus Direktiven der KPdSU ein. Sie geraten zu Metaphern einer postrevolutionären Dynamik, werden durchmischt mit Sinn-Splittern aus der deutschen Philosophie, mit keineswegs verfälschten Überlegungen von Karl Marx. Sehr hilfreich ist für die Entschlüsselung vieler Anspielungen der ausführliche Kommentar der Übersetzerin.
Aber die Parolen lassen sich nicht umsetzen, die schablonenhafte Ideologie funktioniert nicht zum Wohle der Menschen. Wohlgemerkt wird das alles in unmittelbarer Zeitzeugenschaft des Geschehens aufgeschrieben und in einer aufwühlenden Sprache erzählt von einem, der kein Feind des Sozialismus ist. Platonow schreibt nicht aus der Sicht des Klassenfeindes, sondern aus der Perspektive eines Menschenfreundes. Das macht seinen Roman so kraftvoll. Seine Kritik des Stalinismus ist vernichtend. Das Personal ist mannigfaltig: Ein Funktionär, der "von oben" abgesetzt wird, Kleinbauern, die ihre "Entkulakisierung" feiern, Nastja, ein Mädchen - die Hoffnung des Sozialismus - stirbt am Ende und mit ihm alle Hoffnung.
"Die Baugrube" konnte erst in der späten Sowjetunion erscheinen. Sein Autor starb 1951. Einer, der es wohl am besten beurteilen konnte, Joseph Brodsky, befand: "Die Unterdrückung der ‚Baugrube' hat die russische Prosa um 50 Jahre zurückgeworfen."
Andrej Platonow: Die Baugrube. Neuübersetzung, mit Kommentaren und Nachwort von Gabriele Leupold und mit einem Essay von Sibylle Lewitscharoff. Suhrkamp, 239 Seiten, 24 €.