Literatur Und ab geht’s durch die Teufelspforte

Saarbrücken · Der jüngste Band der saarländischen Topicana-Reihe erscheint. Heute wird er im Künstlerhaus in Saarbrücken vorgestellt.

Ist die großregionale Literatur tatsächlich von der „Nähe zu einem Nachbarn“ geprägt, wie Jörg Ruthel im Vorwort zu der neuen Anthologie „Grand Est – petit ouest“ schreibt, die sieben Texte saarländischer und lothringischer beziehungsweise elsässischer Autoren bündelt? Oder ist das Grenzüberschreitende nicht vielmehr nur eine reflexhafte Behauptung, sobald man die Literatur dies- und jenseits der deutsch-französischen Grenze zu fassen sucht? Die „besonderen Bedingungen der Grenzlage“ (Ruthel) jedenfalls spielen selbst in den ausgewählten Texten der Anthologie keine Rolle. Denn eine spezifisch saarländische oder lothringische Literatur gibt es nicht, sofern man nicht bereits Wohnorte als hinreichenden Ausweis dafür ansehen will.

Als Band 32 der verdienstvollen Topicana-Reihe des saarländischen Schriftstellerverbandes (VS Saar) erschienen, ist dessen Besonderheit vielmehr seine durchgehende Zweisprachigkeit: Die Texte sind so gesetzt, dass sich stets links der französische und rechts der deutsche Text findet – die vier Übersetzungen ins Französische besorgte Alain Lance, die (sehr freizügigen) Übertragungen der drei französischen Prosastücke übernahm Anthologie-Herausgeber Jörg Ruthel. Um mit Letzterem zu beginnen: Bei allen drei handelt es sich um Romanauszüge. Sophie Bours „Ciel de cendre“ („Aschgrauer Himmel“) erzählt aus der Perspektive einer sich an ihre Jugend erinnernden Frau rückblickend von der Schließung eines lothringischen Stahlwerks. Bour, die als Französischlehrerin in Metz lebt und bereits acht (!) Romane veröffentlicht hat, kombiniert dabei die Familiengeschichte ihrer Erzählerin geschickt mit Erinnerungen an deren erste Liebe, einem Stahlwerker und Kollegen ihres Vaters – ein verheißungsvoller Romanauszug.

Gleiches gilt für den Ausschnitt aus Arnaud Friedmanns 2012 erschienenem Roman „Grâce à Gabriel“ („Dank Gabriel“). Man liest den inneren Monolog einer kraftlosen, angstbesetzten, depressiven Mutter, die im Wesentlichen noch von der Hoffnung auf ein besseres Leben ihrer Tochter Emilie aufrecht gehalten wird – bis die 17-jährige Tochter eines Tages vermisst wird. Wie routiniert und genau gesetzt Friedmann hier ein literarisches Gespinst aus Empfindungen und Einbildungen, aus Selbstermahnungen und -betrügereien entwirft, das zeugt von viel Talent. Literarisch merklich bescheidener bleibt ein Extrakt aus einem bereits 2003 unter dem Titel „La maison du silence“ („Das Haus der Stille“) erschienenen Roman der 2016 gestorbenen Wahl-Straßburgerin Anne Basc. Er erzählt sprachlich etwas ungelenk und allzu vordergründig von einer Straßburger Musikpädagogin, die in einem einsam gelegenen Haus in den Vogesen versucht, wieder zu sich zu kommen.

Weshalb der Topicana-Band in arithmetischer Schieflage herauskommt und diesen drei Roman-Auszügen vier saarländische Erzählungen gegenüberstellt, bleibt unerfindlich. Ebenso wenig, weshalb man mit „Heißer Nebel“ einen 20 Jahre alten, wenngleich als Milieustudie gut funktionierenden, mehrstimmigen Text von Erhard Schmied aufgenommen hat statt noch ungedruckte Prosa von Schmied. Der langjährige, am Jahresende ausscheidende SR-Literaturredakteur Ralph Schock überrascht mit einem Stück ausgefeilter Dokumentarliteratur. Schocks Prosa-Recherche „Die Brandruine“ – genau beobachtet, stilistisch spröde – kreist um die Hintergründe eines gut 30 Jahre zurückliegenden Hotelbrandes in einem Dorf im südfranzösischen Périgord: Erinnerungen und Spurensuche in der Ruine, Verdächtigungen und Tratsch fließen ineinander und sagen mitunter mehr über die Befragten denn über die Person des Hoteliers – eines aus Deutschland stammenden Juden.

Weniger gelungen, sprachlich und kompositorisch zu blass, ist Sonja Rufs, ihrem Roman „Die Frau im Fels“ entnommener Text, der die in einer Liebesnacht endende Annäherung zwischen zwei ungleichen Frauen zum Thema hat: der erfahrenen, in sich ruhenden, älteren Musikalienhändlerin Inge und der deutlich jüngeren, suchenden Johanna. Bleibt zuletzt noch Jörg W. Gronius‘ Erzählung „Vereinsamt“, die den neuen Topicana-Band eröffnet. Große Fragen werden darin aufgeworfen, um deren Beantwortung dann literarisch gewieft in der Schwebe zu halten. „Was ist denn die Moderne?“, fragt Gronius‘ Erzählerin einen (ihren?) Freund, hinter dem man ein Selbstporträt des Autors vermuten könnte. „Die Moderne ist das Plötzliche“, antwortet er (am liebsten auf einer Bank am Saarufer dozierend) und beginnt sich über die „Unhintergehbarkeit der Moderne“ auszulassen.

Zuletzt wird er seine Zeit dann doch hintergehen – in einer dem magischen Realismus entliehenen Wendung, bei der er im Verlauf einer nächtlichen Autofahrt mit der Freundin durch eine Teufelspforte hindurch verschwindet. Wo andere gerne über Gebühr ihre letzten literarischen Winkel ausleuchten und vor lauter Variieren eher für Redundanzen sorgen, vertraut Gronius auf den Nachhall von Leerstellen.

Grande Est – petit ouest. Sieben Erzählungen aus dem Saarland, Lothringen und dem Elsass. Edition Saarländisches Künstlerhaus, 307 Seiten.
Buchvorstellung heute Abend um 20 Uhr im Saarländischen Künstlerhaus.
www.kuenstlerhaus-saar.de

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