Die ganze Wahrheit, geräuchert und in Stein gemeißelt

Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen - das ist eine dieser lakonischen, in hanseatisches Granit gemeißelten, anschließend geräucherten Lebenweisheiten Helmut Schmidts

Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen - das ist eine dieser lakonischen, in hanseatisches Granit gemeißelten, anschließend geräucherten Lebenweisheiten Helmut Schmidts. Hildegard von Bingen soll ja in der Tat Visionen gehabt haben, ging aber nicht oder nur selten zum Arzt, sondern in den Kräutergarten und in die Offensive, was verkrustete Strukturen in Kirche, Wissenschaft und Gesellschaft anging. Heutige Mediziner mutmaßen etwas prosaisch, Frau von Bingen hätten keine Visionen heimgesucht, sondern Sehstörungen infolge besonders bösartiger Migräne-Attacken.

Spielte mir also neulich eine Migräne auf dem Sofa einen hintersinnigen Streich - oder suchte mich tatsächlich eine waschechte Vision heim? Fünf viel (wenn nicht gar alles!) versprechende Worte flimmerten immer wieder durchs Fernsehbild, wenn auch merkwürdigerweise nur bei Sat.1: "Die Wahrheit gleich bei Kerner!" Ein erstaunlicher, ein profunder, ein kolossaler Satz. Jahrtausende der überwiegend vergeblichen Suche nach dem tieferen Sinn des Seins, dem Zweck des Lebens, der ganzen Wahrheit eben, einfach so zusammengefasst, zu voller philosophischer Höhe geschraubt und dann auch noch beantwortet von Johannes B. Kerner? Dem Mann, den die "Süddeutsche" einst als "Hase Cäsar des deutschen Fernsehens" deklassierte? (Reifere Leser werden sich noch an diese nasal dampfplaudernde Handpuppe des Kinderprogramms erinnern.) Aller Visionen zum Trotze verpuffte die Wahrheitsverheißung dann doch zum bekannten Talkshowgebläse. Das war dennoch wohl nicht das Schlechteste, denn vielleicht will man es nicht so genau wissen. Und wie lohnend könnte "die Wahrheit" schon sein, wenn sie abends zwischen 22.17 und 22.19 Uhr bei Sat.1 verkündigt wird?

Ein wenig komplexer sollte das Leben schon sein, gerne auch rätselhafter, wie etwa ein Schild auf einem Wanderweg im schönen Nordsaarland: "500 Meter" steht da unvermittelt und ohne weitere Erklärung in Schwarz auf weißem Grund. Auf der Rückseite prangt "2500 Meter". Damit ist die klassische Doppelfrage "Wo kommen wir her, wo gehen wir hin?" zwar nicht beantwortet, erhält durch eine Meter-Angabe aber immerhin ein bisschen faktische Unterfütterung, was die Lebens-Wegstrecke angeht. Ein Schild, das der universellen Wahrheit am nächsten kommt, findet man in einem Saarbrücker Textilfachgeschäft: "Vorsicht Tür" steht da an der, Sie haben es erraten, Tür. Ein Stück unerschütterliche Wahrheit mit praktischem Nutzen: Denn die Tür ist gläsern und somit schnell übersehbar, was bei vollem Körperkontakt zu Kopfschmerzen führen kann - oder gar zu Visionen und damit zurück zum Ratschlag von Helmut Schmidt.

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