Gastbeitrag Joachim Gauch Selbst der Weltoffene gerät an seine Grenzen

Altbundespräsident Joachim Gauck setzt sich kritisch mit dem Multikulturalismus auseinander und formuliert klare Forderungen an die Zuwanderer.

DÜSSELDORF Der Fremde hat solange existiert, wie es den Menschen gibt. Aber mit der Entstehung von Nationalstaaten hat das Eigene noch an Bedeutung und die Abgrenzung vom Fremden noch an Schärfe gewonnen. Skepsis gegenüber einem auf Nationalismus aufbauenden Nationalstaat ist mehr als angebracht. Wenn wir uns allerdings die Entwicklung der letzten Jahre vor Augen führen, dann sehen wir, dass nicht allein in Deutschland und Europa, sondern auch in den USA und anderen westlichen Ländern das Bedürfnis nach einer Verwurzelung im Eigenen unterschätzt worden ist und nicht kosmopolitisches, sondern nationales Denken wieder an Bedeutung gewonnen hat – gerade wegen der beschleunigten Entwicklung in Richtung Globalisierung, wegen der Auflösung von Grenzen und wegen der Befürchtung, in einer Gemeinschaft von Weltbürgern die eigenen Wurzeln zu verlieren. Zu der Angst vor dem Fremden hat sich die Angst vor der Entfremdung von sich selbst gesellt.

Für mich hat ein Nationalstaat nur dann Chancen auf eine fruchtbare Entwicklung, wenn er auf einer offenen Gesellschaft beruht. Ein Nationalstaat darf sich allerdings auch nicht überfordern. Wer sich vorstellt, quasi als imaginierter Vertreter eines Weltbürgertums alle Grenzen des Nationalstaates hinwegzunehmen, überfordert nicht nur die materiellen, territorialen und sozialen Möglichkeiten eines jeden Staates, sondern auch die psychischen Möglichkeiten seiner Bürger. Sogar der weltoffene Mensch gerät an seine Grenzen, wenn sich Entwicklungen vor allem kultureller Art zu schnell und zu umfassend vollziehen.

Einen großen Einfluss in der Integrationspolitik hat lange Zeit die Konzeption des Multikulturalismus gehabt: Was sich auch immer hinter den einzelnen Kulturen verborgen hat – Vielfalt galt als Wert an sich. Die Kulturen der Verschiedenen sollten gleichberechtigt nebeneinander existieren, für alle verbindliche westlich-liberale Wertvorstellungen wurden abgelehnt. Ich verstehe, dass es auf den ersten Blick tolerant und weltoffen anmuten mag, wenn Vielfalt derart akzeptiert und honoriert wird. Wohin ein solcher Multikulturalismus aber tatsächlich geführt hat, das hat mich doch erschreckt.

 So finde ich es beschämend, wenn einige die Augen verschließen vor der Unterdrückung von Frauen bei uns und in vielen islamischen Ländern, vor Zwangsheiraten, Frühheiraten, vor Schwimmverboten für Mädchen in den Schulen. Wenn Antisemitismus unter Menschen aus arabischen Staaten ignoriert oder mit Verweis auf israelische Politik für verständlich erklärt wird. Oder wenn Kritik am Islam sofort unter den Verdacht gerät, aus Rassismus und einem Hass auf Muslime zu erwachsen.

 Ja, es gibt Hass und Diskriminierung von Muslimen in unserem Land. Und sich diesem Ressentiment und dieser Generalisierung entgegenzustellen, sind nicht nur Schulen und Politik gefordert, sondern jeder Einzelne. Beschwichtiger aber, die kritikwürdige Verhaltensweisen von einzelnen Migranten unter den Teppich kehren, um Rassismus keinen Vorschub zu leisten, bestätigen Rassisten nur in ihrem Verdacht, die Meinungsfreiheit in unserem Land sei eingeschränkt.

Zu viele Zugezogene leben noch zu abgesondert mit Werten und Narrativen, die den Gesetzen und Regeln und Denkweisen der Mehrheitsbevölkerung widersprechen, zu viele leben hier seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten, ohne die Geschichte dieses Landes zu kennen. Um das zu ändern und uns gemeinsam auf eine Zukunft in diesem Land zu verständigen, brauchen wir – wie einst zwischen einheimischen und vertriebenen Deutschen – vor allem eines: mehr Wissen übereinander. Mehr Dialog. Mehr Streit. Mehr Bereitschaft, im jeweils Anderen unseren eigenen Ängsten, aber auch neuen Chancen zu begegnen.

Joachim Gauck war bis 2017  Bundespräsident.  Der Text basiert auf dem gekürzten Manuskript seiner Rede an der Düsseldorfer  Heinrich-Heine-Universität in dieser Woche.

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