Warnschuss statt „Atombombe“

Brüssel · Obwohl Polens Regierung vom rechtsstaatlichen Kurs der EU abrückt, will die EU-Kommission heute eher moderat reagieren. Denn schärfere Maßnahmen könnten im Land zur Solidarisierung mit der Regierung führen.

Für Jean-Claude Juncker beginnt das neue Arbeitsjahr mit einer Belastungsprobe. Schließlich muss der Chef der Europäischen Kommission bei der ersten Sitzung 2016 heute in Brüssel gleich zwei Signale aussenden: Polen soll wissen, dass sein nationalistischer Reformkurs mit Sorge beobachtet wird. Aber die neue Regierung darf nicht das Gefühl bekommen, man wolle sie unter Aufsicht stellen. "Wenn die Freiheit des Verfassungsgerichtes eingeschränkt und die Medienfreiheit untergraben wird, sind das sehr deutliche Hinweise, die wir nicht übersehen dürfen", erklärte der liberale Europa-Abgeordnete und Vizepräsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff gestern. Trotzdem zeigte sich auch der Liberale sicher, dass die Brüsseler Kommission heute nicht die "harte Tour" einschlagen wird. "Es ist richtig, die Prüfung der Rechtsstaatlichkeit zu beginnen", sagte Lambsdorff. Soll heißen: Das 2014 eingeführte dreistufige Verfahren wird zwar eröffnet, aber allen Drohungen prominenter Kommissare zum Trotz wird man nicht gleich die schärfste Waffe ziehen. Zu einem Aussetzen von Fördergeldern oder gar dem Entzug der Stimmrechte - wegen der gravierenden Auswirkungen im Diplomaten-Jargon auch "Atombombe" genannt - dürfte es nicht kommen. Stattdessen könnten Gespräche und "klärende Treffen" vereinbart werden. "Eine solche Prüfung ist schon ein großer Fortschritt", sagt Lambsdorff.

Tatsächlich würde der Beginn der sogenannten Rechtsstaatlichkeitsprüfung nach Artikel 7 des EU-Vertrages Polen und seine Regierung öffentlich bloßstellen. Zumal sich Jaroslaw Kaczynski , der Chef der Regierungspartei PiS, mit seiner Hoffnung auf einen Solidarisierungseffekt weiterer osteuropäischer Führungen gegen Brüssel verrechnet hat. Lediglich Ungarns Premier Viktor Orbán machte inzwischen klar, er wolle keinerlei Sanktionen gegen Warschau mittragen. Dies wäre aber nötig, Polen von den Brüsseler Beschlüssen auszusperren, bedarf der Einstimmigkeit. Wohl auch deshalb wird Juncker heute eher auf Gesprächsbereitschaft setzen. Schärfere Maßnahmen erscheinen wenig klug, meinte der CDU-Europa-Politiker Elmar Brok gestern: Vorverurteilungen von außen könnten in Polen zu einer Solidarisierung führen, die der Regierungspartei Auftrieb gibt - "und das zu einem Zeitpunkt, wo die PiS gerade erheblich an Zustimmung in der polnischen Bevölkerung verliert." Der Grünen-Europa-Abgeordnete Reinhard Bütikofer gab sich auch zurückhaltend und warnte offen vor einer "herrischen Haltung" angesichts der "problematischen Entwicklungen" in dem Land. Für Juncker geht es deshalb am heutigen Tag um viel. Zum einen kann und darf die Kommission als "Hüterin der Verträge" nicht schweigen, wenn rechtsstaatliche Prinzipien ausgesetzt werden. Zum anderen will er als Präsident der Behörde einen deutlichen "Warnschuss" setzen. Das ist er schon seinem Vize Frans Timmermansschuldig. Dieser hatte nämlich bereits zwei mahnende Briefe nach Warschau geschickt, die unbeantwortet blieben. So dürfe keine Regierung mit der Brüsseler Zentrale umgehen.

Meinung:

Reden undnicht drohen

Von SZ-KorrespondentDetlef Drewes

Bei allem Respekt vor der Mehrheitsentscheidung eines Volkes für eine Partei, die die Regierung bilden kann - der Rechtsstaat darf nicht zur Disposition gestellt werden. Die EU hat lange gebraucht, um zu verstehen, dass man auch für diesen, zeitweise für undenkbar gehaltenen Fall, einen Sanktionsmechanismus braucht. Heute wird er wohl zum ersten Mal in Gang gesetzt. Das allein reicht, um Polen als betroffenen Mitgliedstaat an den Pranger zu stellen. Und das ist auch die Absicht. Die Führung in Warschau mag über Einmischungen in die inneren Angelegenheiten schimpfen und diese zurückweisen. Aber sie hat Unrecht. Brüssel will Polen nicht bevormunden, aber sehr wohl sicherstellen, dass erreichte demokratische Werte garantiert bleiben.

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