Nach „Gelbwesten“-Protest Die Sprechstunde des Doktor Macron

Paris · Nach der Krise der „Gelbwesten“ will der Präsident mit einer großen nationalen Debatte den Franzosen den Puls fühlen.

Emmanuel Macron hat mal wieder seinen Zeitplan umgeworfen. Seit der Krise der „Gelbwesten“ passiert es häufig, dass der Präsident Termine oder Reisen absagt, weil die Aktualität in Frankreich ihn dazu zwingt. Gestern flog er deshalb nicht nach Biarritz, sondern blieb im Elysée, um die nationale Debatte vorzubereiten, die Regierende und Bürger einander wieder näher bringen soll. Die Idee für diese Bürgersprechstunde hatte Macron selbst formuliert. Er wolle seinen Landsleuten den Puls fühlen, kündigte er jüngst in einer Ansprache an, mit der er auf die Proteste der „Gelbwesten“ reagierte. Statt wie in der Vergangenheit als Oberlehrer aufzutreten, scheint der Staatschef nun in die Rolle des Arztes zu schlüpfen.

Die Regierung sieht die Debatte als Möglichkeit, die zerstörerische Wut der „Gilets jaunes“ in konstruktivere Bahnen zu lenken. Die Demonstrationen in Gelb hatten zuletzt deutlich an Beteiligung verloren: Am Samstag gingen nur noch 66 000 Menschen auf die Straße gegenüber 125 000 die Woche davor. Die von Macron gemachten milliardenschweren Versprechen taten dabei offenbar ihre Wirkung. „Die Kämpfe sind vorbei, jetzt ist die Zeit für die Debatte gekommen“, sagte sein Vertrauter Richard Ferrand. Doch wie genau miteinander diskutiert werden soll, darüber herrscht noch Unklarheit. Die Regierung spricht von Debatten auf kommunaler Ebene, Treffen am Arbeitsplatz und Diskussionen in den sozialen Netzwerken. In jedem Fall soll das Gespräch vor Ort geführt werden – mit den von Macron lange geschmähten Bürgermeistern als Moderatoren.

„Die allgemeine Idee besteht darin, eher einen englischen als einen französischen Garten daraus zu machen: Er muss üppig sein“, sagte Premierminister Edouard Philippe vergangene Woche. Statt streng gestutzter Bäume also wild wuchernde Debattenblumen. Der Regierungschef ist sogar für die Hauptforderung der „Gelbwesten“ empfänglich: Die Abhaltung von Volksbefragungen. „Das Referendum kann ein gutes Instrument der Demokratie sein, aber nicht über jedes Thema und nicht zu allen Bedingungen“, bemerkte er in der Wirtschaftszeitung „Les Echos“. Die Opposition, allen voran die Rechtspopulistin Marine Le Pen, setzt sich seit langem für Bürgerbefragungen ein, mit deren Hilfe sie heikle Themen wie die Einwanderung auf vereinfachende Parolen reduzieren könnte. In der Verfassung ist bereits die Möglichkeit einer Volksabstimmung enthalten, wenn die Initiative von einem Fünftel der Parlamentsmitglieder und einem Zehntel der auf den Wählerlisten eingetragenen Franzosen unterstützt wird. Genutzt wurde das Mittel aber noch nicht.

Die „Gelbwesten“ fordern nun die Möglichkeit eines Referendums, das allein von den Bürgern angestoßen wird, also ohne Unterstützung der Parlamentarier. Die Befugnisse solcher Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild wären weit gefasst: Von der Abschaffung von Gesetzen über die Entlassung von Abgeordneten bis hin zur Änderung der Verfassung. Auch den Präsidenten wollen einige radikale „Gilets jaunes“ per Referendum aus dem Amt jagen. Experten warnen davor, dass  solche Entscheidungsmöglichkeiten das Ende der repräsentativen Demokratie bedeuten könnten. „Das würde uns in einen Kreislauf bringen, in dem wir unsere Zeit damit verbringen, gewählte Politiker zu entlassen. Was wäre dann mit der Kontinuität des Staates?“, sagte der Politologe Olivier Rouquan der Zeitung „Libération“.

Dennoch soll die Frage der Referenden bei der nationalen Debatte erörtert werden, die im Januar beginnt. Die „Entwicklung der Demokratie und des Bürgertums“ ist einer der vier Bereiche, die die Regierung für den Bürgerdialog definierte. Die anderen sind das Steuersystem, die Organisation des Staates und die Energiewende. Ob die Themen tatsächlich diejenigen sind, die die „Gelbwesten“ bewegen, wird sich bis zum 1. März zeigen. So lange soll die Sprechstunde des Doktor Macron dauern.

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