Libyen steht wieder am Rande des Bürgerkriegs

Kairo · Zweieinhalb Jahre nach dem Sturz von Diktator Gaddafi ist Libyen praktisch unregierbar. Bei blutigen Unruhen sind in den vergangenen Tagen mehr als 70 Menschen ums Leben gekommen. Zu viele verschiedene Gruppen greifen nach der Macht.

Ist es der Beginn eines Putsches, der Auftakt eines Bürgerkrieges? In jedem Fall erlebte Libyen in den vergangenen Tagen die blutigste Gewalt seit der von der Nato unterstützten Rebellion gegen Diktator Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011. Mehr als 70 Menschen starben in Bengasi, als der abtrünnige General Khalifa Haftar mit seiner paramilitärischen Einheit "Nationale Armee" Positionen der mit Al Qaida verbündeten "Ansar Sharia" attackierte. Am Sonntag stürmten mit Haftar verbündete Einheiten in der Hauptstadt Tripolis das Parlamentsgebäude, sprachen den Abgeordneten die Legitimität ab und verlangten die Übergabe der Macht an ein jüngst gewähltes Gremium, das eine neue Verfassung erarbeiten soll.

Während die Übergangsführung die Forderungen zurückwies und islamistische Milizen zur Verteidigung der Hauptstadt zu Hilfe rief, schwor Haftar, den Kampf fortzusetzen, bis Bengasi "von Terrorgruppen gesäubert" sei und Libyen eine effiziente Führung erhalte. Er beschuldigt den von Islamisten dominierten "Nationalen Übergangskongress", dessen Amtszeit im Februar abgelaufen ist, Extremisten zu stärken. Damit Libyen nicht zu einer "Brutstätte des Terrors" werde, rüsten sich Haftars Einheiten zum weiteren Kampf in den beiden Machtzentren Libyens - Bengasi und Tripolis. Es droht ein Krieg, der das ganze Land treffen könnte.

Haftar, einst Gaddafis Heereschef, sagte sich während des libyschen Krieges im Tschad in den 1980er Jahren vom Diktator los und versuchte mit Hilfe des US-Geheimdienstes CIA eine im Tschad stationierte oppositionelle Miliz aufzubauen. 1991 zum Verlassen des Tschad gezwungen, fand er in den USA Zuflucht, schloss sich 2011 der Rebellion gegen Gaddafi in Libyen an und sollte mit US-Hilfe zum Aufbau einer neuen Streitkraft beitragen. Doch diese Aufgabe wurde ihm entzogen, vermutlich wegen seiner Nähe zur CIA.

Über Haftars Rückhalt herrscht Unklarheit. Zweifellos teilen weite Kreise die Unzufriedenheit über das wachsende Chaos in einem von zahllosen Milizen kontrollierten Land sowie die Exzesse islamistischer Terroristen und Krimineller. Teile der Streitkräfte dürften zum Rebellen-General übergelaufen sein, der auch von ostlibyschen Milizen, Stämmen und ehemaligen mit der Zentralregierung unzufriedenen Rebellen unterstützt wird. Doch seine Aktion könnte das Land noch tiefer ins Chaos stürzen. Zweieinhalb Jahre nach dem Sturz Gaddafis bleiben die Grundprobleme ungelöst.

Libyen ist de facto unregierbar, ohne Staatsoberhaupt, ohne Verfassung, ohne effiziente staatliche Sicherheitskräfte. Die mit zahllosen Privilegien ausgestatteten Milizen führen sich laut "International Crisis Group" auf wie "Polizisten, Richter und Gefangenenwärter", halten nach Schätzungen rund 800 Menschen in ihrer Gewalt und sind so schwer bewaffnet, dass es unmöglich ist, gegen sie vorzugehen. Mindestens sieben Richter und Staatsanwälte, die dies versucht hatten, mussten dafür sterben. Die Täter wurden nie verfolgt und damit nehmen Gewalt und Willkür zu.

Libyen mit seinen 6,5 Millionen Einwohnern ist nach Schätzungen überflutet mit 15 Millionen Gewehren und vielen anderen Waffen und bietet sich allerlei Extremisten als Sprungbrett an, um in mehr als einem Dutzend anderer Länder Chaos zu stiften. Viele Milizen sind unter keinen Umständen bereit, ihre Waffen und Privilegien einer Zentralmacht abzuliefern, während der nationalen Streitkraft die Schlagkraft fehlt, die einer zivilen Zentralregierung den nötigen Rückhalt zur Herstellung von Stabilität verschaffen könnte.

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