Das Herz der Revolution

Kiew · Der Widerstand in der Ukraine gegen den prorussischen Präsidenten Janukowitsch wächst stündlich. Die Protestbewegung, die sich am Maidan in Kiew konzentriert, will seinen Rücktritt erzwingen.

Rußschwarz und voll lodernder Feuerstellen ist die "Hölle" bei den Protesten gegen Präsident Viktor Janukowitsch und die prorussische Führung in Kiew. Flammen schlagen aus Haufen brennender Autoreifen. Rauch, Ruß und Asche schwärzen den vereisten Boden auf der Gruschewski-Straße, nahe dem Präsidenten-Palast. "Slawa Ukraine!" - Ruhm der Ukraine! - ertönt immer wieder der Schlachtruf der Demonstranten. Ein Vermummter füllt in Bier- und Wodkaflaschen Benzin ab - um daraus brennende Wurfgeschosse zu machen.

Unversöhnlich stehen die Regierungsgegner mit Knüppeln und Brecheisen starken Sicherheitskräften gegenüber. Auch an diesem eisigen Wintertag, bei 15 Grad minus. Die Uniformierten haben Stellung vor dem Sitz des Staatschefs bezogen. Sie wappnen sich gegen eine Erstürmung der Machtzentrale. Die Zufahrtstraßen zum Regierungsviertel haben Armee und Angehörige der Anti-Terror-Einheiten Berkut (Steinadler) mit Kamaz-Lastwagen blockiert. Die Lage droht vollkommen zu eskalieren.

Tritt der Staatschef nicht ab, will an der Front keiner mehr Gewalt ausschließen. "Ich bleibe bis zum Sieg", sagt der Geschichtslehrer Michail Gurik aus Ternopol. Der 37-Jährige ist seit einigen Tagen hier. "Weil erstmals auf Demonstranten geschossen wurde", sagt er. An die Toten Sergej Nigojan (20) und Michail Schisnewski (25) erinnern an vielen Stellen Fotos, Kerzen und Traueranzeigen. "Janukowitsch hat dem Volk den Krieg erklärt", sagt Gurik. So wie er, fühlen Tausende in der Protestzone. Sie sehen sich um eine Zukunft in der EU betrogen. Der Westen hat der Ex-Sowjetrepublik diese Partnerschaft angeboten. Doch Janukowitsch orientiert sich lieber nach Russland - Kremlchef Wladimir Putin stützt diese Abkehr vom EU-Kurs mit Milliardenhilfen. Die Proteste sind nicht zuletzt die Antwort auf diese Politik.

Die Demonstranten schleppen mehr und mehr Reifen und Steine in den Kessel. Einige suchen Deckung hinter ausgebrannten Polizeibussen vor Schüssen der Milizionäre. Bewohner der Häuserzeile im "Kampfgebiet" erinnern auf weißen Bannern mit roter Schrift an ihren Balkonen und Fenstern daran, dass hier Menschen wohnen. "Egal, wer bei uns an der Macht ist, es wird doch immer geklaut", sagt ein wütender Passant. An anderer Stelle verteilen Rentnerinnen Käse, Brot und Kekse an die Revolutionäre. "Trinken Sie warmen Tee!", rufen sie.

Der Widerstand gegen die "Diktatur" wächst, wie die größer werdenden Barrikaden am Maidan zeigen. Sie sollen eine Erstürmung des zentralen Unabhängigkeitsplatzes - das Herz der Proteste - verhindern. Passanten kommen nur noch durch dünne Schlupflöcher in die vielleicht einen Kilometer lange und einhundert Meter breite Protestzone. Hier versammeln sich die friedlichen Demonstranten bei melancholischer Musik. Vor einer Bühne und Großbildschirmen hören die Wartenden Boxchampion Vitali Klitschko, dem Ex-Parlamentschef Arseni Jazenjuk und anderen Anführern der zersplitterten Opposition zu. Zu Tausenden strömen die Menschen auch spät nachts auf den Platz, um im Chaos aus Gerüchten echte Neuigkeiten von ihnen zu hören.

Doch der Maidan ist längst gespalten. Die einen wollen eine friedliche Revolution. Anderen wiederum geht es mit dem Umsturz nicht schnell genug. "Wissen Sie, ich habe nichts zu verlieren. Ich bin aus dem Kiewer Gebiet gekommen, um zu kämpfen - und nicht, um mir Reden anzuhören", sagt ein 25-Jähriger. Jedoch sind alle froh, dass Klitschko und Jazenjuk nicht auf Janukowitschs Angebot einer Mitarbeit in der Regierung eingehen. Das wäre Verrat an der Revolution, die den Machthaber Janukowitsch hinter Gitter bringen will - wie eine riesige Fotomontage auf dem Maidan zeigt.

An anderer Stelle ist der frühere Geheimdienstchef und einstige KGB-Offizier Wladimir Putin großflächig als Teufel abgebildet. Auf der Straße ist immer wieder zu hören, dass die Revolution eigentlich in Moskau passieren müsste. "Die Proteste richten sich gegen Putin und sein Vormachtstreben im postsowjetischen Raum", sagt der 32-Jährige Alexander Daniljuk. Ähnliche Töne schlagen die Sprecher der Oppositionsbewegungen im "Medienzentrum" im Gewerkschaftshaus am Maidan an. Das Hauptquartier der Revolution ist auch der Ort des Austauschens, um neue Infos über Verschwundene und Tote zu bekommen.

Im dritten Stock des Hochhauses liegt die größte Krankenstation der Protestzone. Kaum können die Helfer in den schmalen Gängen die Lawine der Kisten und Säcke mit Medikamenten und Verbandszeug bewältigen. "Viele helfen uns", sagt Stationssprecher Swjatoslaw Chanenko. Die Ärzte müssten nach Tränengaseinsätzen vor allem Augenverletzungen, aber auch Leute mit Erfrierungen behandeln. Alle stellen sich auf einen langen Kampf ein. "Wir sind im Krieg", sagt eine Schwester.

Auf dem Maidan zimmern unterdessen immer mehr Janukowitsch-Gegner Baracken aus Holz oder stellen Zelte, Kanonenöfen und Feldküchen auf. Vermummt in Wollmasken, um sich vor dem Frost zu schützen und nicht erkannt zu werden. Mit Stahl- oder Motorradhelmen schützen sie ihre Köpfe. Manche tragen auch Gasmasken und Tarnuniformen. Die Staatsmacht hat das Herz der Stadt den Regierungsgegnern überlassen.

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