Reportage aus den Protestcamps Obdachlos in Madrid

Madrid · Während die Regierungskrise kein Ende nimmt, bleiben die Probleme vieler Spanier ungelöst. Nur wenige Meter von den Touristenhotspots der Hauptstadt entfernt kampieren seit mehr als sechs Monaten Menschen aus Protest gegen „die da oben“.

Impressionen aus den Protest-Zelten in Madrid
5 Bilder

Impressionen aus den Protest-Zelten in Madrid

5 Bilder
Foto: Fatima Abbas

Mit den Menschen, die hier kampieren, ist es wie mit ihren Zelten: Von außen betrachtet lässt sich allerhöchstens erahnen, was sich in ihnen verbirgt. Und warum sie über so viele Monate hinweg so standhaft bleiben. „Nadie sin hogar“ – „Niemand ohne Zuhause“ prangt es zwischen zwei Platanen. Slogans in Riesenbuchstaben haschen nach dem Blick der Passanten. Schaut her, ihr Bürger! Schaut her, ihr sorglosen Touristen! „Schließt euch dem Protest an!“

Und der könnte nicht prominenter platziert sein: direkt vor dem weltberühmten Prado-Museum. Im Hotelbewertungsjargon wäre das „Beste Lage“. Doch das hier ist kein Hotel. Es sind 70 Zelte verteilt auf zwei Flächen, mal weiß, mal grün. Die Zahl variiert. Und eine andere ist in den vergangenen zwei Jahren deutlich gestiegen: Auf Anfrage teilt das Rathaus mit, dass knapp 3000 Menschen in Madrid kein Zuhause haben (Stand 2018). 650 davon leben direkt auf der Straße. 2016 waren es noch 524.

Einige von ihnen beschlossen Anfang des Jahres, am Pracht-Boulevard ihr Zelt aufzuschlagen. Es könnten 80 sein. Wie viele genau, weiß man hier nicht. Mehr als 20 sind es allemal. Die Zahl also, ab der laut Kommunalverwaltung eine Kundgebung angemeldet werden muss.

Diese Kundgebung blieb aber unangemeldet. Die Camps sind illegal, in ganz Madrid ist freies Zelten verboten. Die Polizei hätte die grüne Landschaft längst auflösen müssen. Hat sie aber nicht. Stadt und Autonome Region schieben sich, wie aus langen Antwort-E-Mails der Presseabteilungen hervorgeht, gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Niemand scheint sich zuständig zu fühlen für den Streifen, der ganze Welten spaltet. Die der politischen Führungsriege, die seit Wochen vergeblich versucht, eine Regierung auf die Beine zu stellen und dabei aus Sicht vieler Spanier die „wahren“ Probleme des Landes aus den Augen verliert. Und die Welt von Menschen wie Wael. Vor anderthalb Jahren lebte der Tunesier noch nahe der algerischen Grenze. Jetzt sitzt er im Freien, vor ihm liegen Klunker auf einem Klapptisch. Ohrringe und Ketten verkauft er, vom Schwarzmarkt ans Zelt. Er spricht offen, springt auf und reißt unvermittelt sein Zuhause auf. Kissen, T-Shirts, Waschmittel. „Hier wohne ich“, sagt der 36-Jährige. Dann zieht er abrupt wieder zu, als habe er gerade erst gemerkt, was er da zeigt. Wael – braungebrannt, weiße Zähne – wartet nicht nur auf schmuckaffine Touristen. Er wartet auch auf seine Papiere. Eine Unterkunft stünde ihm als Asylsuchender zu. Aber eingepfercht zwischen Landsleuten? Das lehnt er ab. Dann lieber im Zelt, bis er einen Job als Küchenhilfe findet.

Abdel-Latif schüttelt über Wael den Kopf. Er nennt ihn liebevoll einen „Querulanten“, weil er hier wohnt, obwohl er nicht müsste. Er, Abdel-Latif, dagegen muss – zumindest scheint es so. 600 Euro bekomme er vom Staat, sagt der 50-jährige Marokkaner. In Madrid kostet die Miete einer 40-Quadratmeter-Wohnung nicht selten zwischen 800 und 1000 Euro.

Abdel-Latif hatte einen Herzinfarkt. 55 Prozent Behinderungsgrad. Das Problem: In Spanien steht ihm erst ab einem Grad von 65 Prozent eine Behindertenrente zu, knapp 370 Euro. Seinem Beruf als Schweißer kann er nicht mehr nachgehen. „Was soll ich machen, jetzt habe ich eine grüne Villa.“

Ein Scherz, über den Manuel keine Miene verzieht. Der junge Spanier hat Falten vor Stress, sieht aus, als hätte er tagelang nicht geschlafen. „Nur etwas mehr als 2000 Euro hätten gefehlt“, stottert er und klingt dabei so, als laste ein Sack Bitterkeit auf seinen Stimmbändern. Mit 2000 Euro meint der 29-Jährige das Geld, das er nicht mehr aufbringen konnte, um seine Wohnung abzubezahlen. Bank-Hypothek, Zwangsversteigerung. Wie konnte es so weit kommen? Wie die Unterstützerplattform für Menschen mit Hypotheken (PAH) mitteilt, mussten 2018 mehr als 70 000 Spanier ihre Wohnungen zwangsräumen. Fast 10 000 mehr als 2017. Seitdem das neue Hypotheken-Gesetz im Juni in Kraft trat, müssen Banken längere Fristen einhalten, bevor sie Vollstreckungsverfahren einleiten.

Doch das kommt für Manuel zu spät. Er ist seit Januar ohne Obdach, vorher war er Croupier im Casino. Die Sammelbox, die er jetzt schüttelt, fülle sich „an guten Tagen“ mit 20 Euro. „Freiwillig macht das niemand. Auf der Straße stirbst du.“ Erst kürzlich habe jemand versucht, sein Zelt anzuzünden. Aus der Kommunalverwaltung heißt es, die Polizei werde nicht einschreiten, solange es friedlich bleibe. Aber was ist Frieden?

Die meisten, die den Paseo del Prado an diesem Nachmittag entlangschlendern, gehen raschen Schrittes weiter. Velázquez und Rembrandt sind die bessere Gesellschaft. Auch Aitor würde am liebsten wegschauen. Der 31-Jährige ist seit vier Wochen hier. Dank Butanflasche kochen sie warm, im Sammel-Koffer liegt ein Fünf-Euro-Schein. Zu gerne würde der Baske sich wieder rasieren, aufs Bild will er so auf gar keinen Fall. Während er spricht, dreht er sich einen Joint. Seine Geschichte ist so schräg wie das Dach, das er mal über dem Kopf hatte. Er habe aus Gutmütigkeit ein obdachloses Paar mit Kind bei sich aufgenommen. Irgendwann sei er nach Hause gekommen und habe vor einem ausgetauschten Schloss gestanden. Die Polizei habe nichts für ihn machen können. Seine Wut – sie sucht jetzt einen Kanal. „Die da oben sollten sich erst um uns Spanier kümmern, dann um die Gäste.“ Er stupst seinen stummen Zeltnachbarn aus Marokko an und sagt: „Nicht wahr, mein Freund?“

Ein paar Zelte weiter steht Selena, eine von wenigen weiblichen Erscheinungen unter den Bewohnern. Sie ist eingewickelt in ein gelb-blaues Tuch, sieht mit ihrem feuchtgelockten Haar so aus, als käme sie gerade vom Strand. „Ich habe eine Behinderung, bekomme 392 Euro im Monat und brauche Medikamente“, sagt die Landwirtin aus Ecuador. Was ihre Lage nicht einfacher macht: Selena war mal ein Mann. Und sie hat einen Zeltnachbarn, der Transsexuelle verachtet. Seit fünf Monaten lebt sie auf der Straße, seit 20 Jahren in Madrid. Davon habe sie gerade mal drei Jahre als Putzfrau in die Sozialkasse eingezahlt. Jetzt ist Selena 64, hat die spanische Staatsangehörigkeit, ist die Flügelkämpfe leid, ist überhaupt alles leid, was mit Politik zu tun hat. Weder die kürzlich abgewählte linke Bürgermeisterin Manuela Carmena habe sich hier blicken lassen. Noch Ministerpräsident Pedro Sánchez. „Pff…der schon gar nicht.“

  Am Madrider Prachtboulevard „Paseo del Prado“ kampieren Menschen aus Protest gegen die Behörden. Knapp 3000 Menschen sind in Madrid obdachlos, 650 davon leben direkt auf der Straße. 

Am Madrider Prachtboulevard „Paseo del Prado“ kampieren Menschen aus Protest gegen die Behörden. Knapp 3000 Menschen sind in Madrid obdachlos, 650 davon leben direkt auf der Straße. 

Foto: Fatima Abbas
 Selena aus Ecuador lebt seit mehr als fünf Monaten auf der Straße.

Selena aus Ecuador lebt seit mehr als fünf Monaten auf der Straße.

Foto: Fatima Abbas
  Der Marokkaner Abdel-Latif kann sich in Madrid keine Wohnung leisten.

Der Marokkaner Abdel-Latif kann sich in Madrid keine Wohnung leisten.

Foto: Fatima Abbas
 Die improvisierte Küche der Camp-Bewohner: Töpfe und Geschirr unter freiem Himmel.

Die improvisierte Küche der Camp-Bewohner: Töpfe und Geschirr unter freiem Himmel.

Foto: Fatima Abbas

Sánchez hat derzeit wohl auch ganz andere Sorgen. Keine geringere als die Regierungsbildung. Wenn er bis zum 23. September keine Mehrheit findet – eine Koalition mit der linken Podemos lehnte er erst am Donnerstag energisch ab –, wird das Parlament aufgelöst, im November käme es zu Neuwahlen. Wann und ob die Camps um Selena, Manuel und Aitor dagegen aufgelöst werden, bleibt völlig in der Schwebe.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort