Gerichtsurteil in London Sieg für Assange – mit offener Hintertür

London · Mit Hochspannung war das Urteil erwartet worden. Nun hat ein Gericht in London entschieden: Der Wikileaks-Gründer muss nicht an die USA ausgeliefert werden.

 London: Ein Lastwagen mit der Aufschrift "Don't Extradite Assange" (Liefern Sie Assange nicht aus) fährt durch die Innenstadt. In einem beispiellosen Verfahren um den Umgang mit Pressefreiheit hat ein britisches Gericht die Auslieferung von Wikileaks-Gründer Assange an die USA abgelehnt. Dem 49-Jährigen hätten in Amerika im Fall einer Verurteilung bis zu 175 Jahre Haft gedroht. Foto: Han Yan/XinHua/dpa

London: Ein Lastwagen mit der Aufschrift "Don't Extradite Assange" (Liefern Sie Assange nicht aus) fährt durch die Innenstadt. In einem beispiellosen Verfahren um den Umgang mit Pressefreiheit hat ein britisches Gericht die Auslieferung von Wikileaks-Gründer Assange an die USA abgelehnt. Dem 49-Jährigen hätten in Amerika im Fall einer Verurteilung bis zu 175 Jahre Haft gedroht. Foto: Han Yan/XinHua/dpa

Foto: dpa/Han Yan

Der Fall wirkt bereits verloren für Julian Assange. Beinahe eine Stunde lang führt Richterin Vanessa Baraitser aus, warum sie die Argumente seiner Verteidigung größtenteils nicht akzeptiert. Warum das Handeln des Wikileaks-Mitgründers über das eines investigativen Journalisten hinausgegangen sei, und warum das Gericht nicht überzeugt von der Behauptung ist, dass es sich bei Assange um ein Opfer politischer Verfolgung handele oder er kein faires Verfahren in den USA erwarte. „Das Recht auf freie Meinungsäußerung bietet Menschen wie Herrn Assange keinen uneingeschränkten Ermessensspielraum, um über das Schicksal anderer zu entscheiden.“

Assange, der einen blauen Anzug und die grüne Maske unter der Nase trägt, verfolgt die Worte ruhig. Dann, am Ende der gestrigen Sitzung im Londoner Strafgericht Old Bailey, folgt die Wende – und das für viele Beobachter unerwartete Urteil: Der Antrag auf Auslieferung an die USA wird abgelehnt. Julian Assange gewinnt, zumindest theoretisch. Bezirksrichterin Baraitser begründete ihre Entscheidung nämlich mit dem psychischen Gesundheitszustand des 49-Jährigen sowie den Haftbedingungen, die ihn in den USA erwarten würden. Sie habe den Eindruck eines „depressiven und manchmal verzweifelten Mannes“ gewonnen, der „aufrichtig um seine Zukunft“ fürchte. Es gebe keine Garantie dafür, dass er sich nicht das Leben nehmen werde, wenn er in die USA überstellt und in Isolationshaft enden würde. Dort drohen ihm wegen der Veröffentlichung von Hunderttausenden US-Dokumenten und Videos aus dem Irak- und Afghanistan-Krieg bis zu 175 Jahre Haft.

Vor dem Gerichtsgebäude in der Londoner City, wo sich bereits am frühen Montagmorgen neben Journalisten und Kameraleuten aus aller Welt auch Dutzende Assange-Unterstützer versammelt hatten, herrschten nach dem Urteil Jubel und Begeisterung. Stella Moris, die Verlobte des Whistleblowers, mit der er zwei Kinder hat, brach nach dem Urteilsspruch in Tränen aus. In einem anschließenden Statement pries sie die Entscheidung als „einen Sieg für Julian“ und „einen ersten Schritt in Richtung Gerechtigkeit“. Ob der Australier aber so schnell freikommt, ist unklar. Die USA kündigten gestern an, in Berufung zu gehen. Und so bleibt Assange vorerst im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh im Südosten Londons in Gewahrsam.

Assanges Anhänger bewerten den gestrigen Tag dennoch als bedeutenden Erfolg in dessen Kampf gegen die US-Behörden, der nun schon seit einem Jahrzehnt andauert. Sieben Jahre lang hatte der Australier in der ecuadorianischen Botschaft in London im Asyl verbracht, um einer Auslieferung nach Schweden zu entgehen. Im August 2010 hatten die Strafverfolgungsbehörden ihre Ermittlungen gegen Assange wegen der mutmaßlichen Vergewaltigung einer Schwedin begonnen und schließlich einen europäischen Haftbefehl erlassen. Er beharrte stets darauf, dass er dann in die USA ausgewiesen worden wäre, wo er eine Strafverfolgung befürchtete. Zunächst ging es um jene Papiere, die die mittlerweile begnadigte Whistleblowerin Chelsea Manning der Enthüllungsplattform zugespielt hatte. Als Assange im April 2019 in der Botschaft verhaftet wurde, fügte die US-amerikanische Grand Jury 17 Anklagepunkte hinzu. Im Zentrum steht der Vorwurf, 2010 geheime diplomatische und militärische Dokumente erhalten und publiziert zu haben. Konkret geht es um geheime Berichte der US-Armee über die Kriege im Irak und in Afghanistan, hunderttausende Diplomaten-Depeschen sowie ein Militär-Video, das die Öffentlichkeit schockiert, Wikileaks weltweit berühmt gemacht und eine diplomatische Krise ausgelöst hat.

Der Fall Assange beschäftigt die Weltöffentlichkeit, weil er nicht nur das persönliche Schicksal eines Mannes betrifft, an dem sich die Geister scheiden. Er berührt vor allem auch grundsätzliche Fragen der Pressefreiheit. Ist er Held oder Verbrecher? Journalist oder Spion? Assanges Anwälte pochen darauf, dass er als Journalist gehandelt habe und die Leaks demnach als Enthüllungen verstanden werden müssten. Dagegen klagt ihn die US-Regierung als Spion an und beschuldigt ihn des Geheimnisverrats. Die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen (ROG) begrüßte die Entscheidung gestern zwar, kritisierte aber die Begründung der Richterin. „Die Richterin hält die Anklagepunkte der USA in der Sache für gerechtfertigt und gibt dem Auslieferungsantrag nur deshalb nicht statt, weil Assange in schlechter gesundheitlicher Verfassung ist“, sagte Geschäftsführer Christian Mihr. Das lasse eine Hintertür offen für die Verfolgung von Journalisten weltweit, „die geheime Informationen von großem öffentlichen Interesse veröffentlichen“.

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