Erst ein paar Linien, bald ein ganzer Zaun?

Brenner · Deutschland kontrolliert wegen der Flüchtlingskrise seit Monaten große Grenzübergänge zu Österreich. Die Aufregung ist überschaubar. Wien erwägt Ähnliches für den Brenner. Die Aufregung ist riesig. Warum?

 An einem Grenzstein zeigt eine gelbe Linie, wo Italien endet und Österreich beginnt – ein Vorläufer möglicher Kontrollen. Foto: Röder/dpa

An einem Grenzstein zeigt eine gelbe Linie, wo Italien endet und Österreich beginnt – ein Vorläufer möglicher Kontrollen. Foto: Röder/dpa

Foto: Röder/dpa

Sind sie der Anfang vom Ende der freien Fahrt am Brenner ? Schmale gelbe Striche auf der Staatsstraße signalisieren seit Kurzem, wo exakt die Grenze zwischen Österreich und Italien am wichtigsten Alpenpass verläuft. Vom Grenzstein aus dem Jahr 1921 zum Kreisverkehr, von dort quer zum alten Zollhaus, dann zum Ortsschild und zu einem weiteren Grenzstein neben den Bahngleisen. Im eigentlich grenzenlosen Europa zentimetergenaues Bewusstsein, wo eigenes Land aufhört und fremdes beginnt. Der erste Schritt zum Zaun, um einen neuen Flüchtlingsandrang zu stoppen? Ein Sprecher der Landespolizeidirektion Tirol in Innsbruck sagt: "Die Vorbereitungen dafür laufen noch nicht."

Auf der nahen Autobahn ist dagegen bereits eine Spur gesperrt. Dort ist in der Fahrbahn eine zehn Meter lange Grube ausgehoben worden. Hier soll das Fundament für das Dach über der Schnellstraße entstehen, damit die Kontrollen auch bei Schlechtwetter komfortabel für die Beamten ablaufen können. Österreich will "lageabhängig" reagieren, wenn tatsächlich wieder mehr Flüchtlinge via Italien ins Land strömen sollten. Schon die Drohung belastet das historisch heikle Verhältnis zwischen Wien und Rom. "Es ist eine gefährliche Kampagne, denn sie setzt auf Angst", warnt Italiens Regierungschef Matteo Renzi.

Der Grund der Sorge ist einfach: "Der Brenner ist der Inbegriff von Europa", sagt Franz Kompatscher. Der 60-Jährige ist Bürgermeister der Marktgemeinde Brenner , zu deren sechs Orten auch das Grenzdorf und seine mehreren hundert Einwohner zählen. Die Trennung von Nordtirol und Südtirol - die Donaumonarchie reichte einst bis zum Gardasee - war Folge des 1. Weltkriegs. Scharfe Kontrollen waren jahrzehntelang üblich. Für die Tiroler auf beiden Seiten war der Wegfall aller Kontrollen ein EU-Geschenk - vergleichbar der Freude der meisten Deutschen über die Wiedervereinigung . Am Brenner zeigte sich die versöhnende Kraft der europäischen Idee. "Viele haben die Grenze immer als sehr schmerzhaft empfunden", erinnert sich Kompatscher. Profitiert von der freien Fahrt am Brenner haben nicht zuletzt die deutschen Urlauber. Angesichts einer möglichen neuen Staufalle auf dem Rückweg fürchtet Kompatscher um Wochenend-Touristen. "Der Kurztrip zum Gardasee ist am ehesten bedroht."

Spätestens mit dem Ende der Kontrollen am 1. April 1998 war das Grenzdorf von Vielen verlassen worden. Erst seine Neuerfindung als Einkaufsparadies brachte wieder Leben und Geld in die Gemeinde. 1,7 Millionen Besucher pro Jahr zählt laut Management das 2012 neu durchgestartete "Outlet Center" mit seinen 60 Shops, die bald auf 70 aufgestockt werden sollen. 45 Millionen Euro haben Unternehmer aus Österreich und Italien in das Projekt investiert, das nur einen Steinwurf von der Grenze auf italienischer Seite liegt. Sind die Umsätze bei Grenzkontrollen und Staus in Gefahr? "Das werden reine Sichtkontrollen, die machen uns keine Sorge", sagt Outlet-Geschäftsführer Maximilian Wild. Die Mautstation in Sterzing am Fuß des Brenners in Italien sei die viel größere Geduldsprobe für die Autofahrer, meint der Manager. Weniger entspannt ist der 60-Jährige angesichts der nun häufigen Demonstrationen gegen die Grenzkontrollen . Schon dreimal seit Anfang April verhagelte der von italienischen Demonstranten organisierte Protest das Geschäft - erst vor wenigen Tagen randalierten "Grenzöffner" aus Italien. "Ein Protesttag kostet uns 200 000 Euro Minimum", sagt Wild.

"Viele sind mit Schuld, die Aufmerksamkeit auf den Brenner gerichtet zu haben", sagt Luca Critelli von der Landesregierung in Südtirol. Er ortet ein allzu forsches Auftreten Österreichs, das aus innenpolitischen Gründen eine Grenzkontroll-Debatte nun auch am Alpenpass losgetreten habe. Aus seiner Sicht wäre ein Zaun in jeder Hinsicht töricht. "Die meisten Flüchtlinge versuchen, mit der Bahn über die Grenze zu kommen. Da hilft ein Zaun gar nichts." Südtirol will aber auch nicht kalt erwischt werden, sollte es zu Kontrollen und Zurückweisungen von Flüchtlingen kommen. "Wir haben Pläne in der Schublade", sagt Critelli. Dabei gehe es um die Verteilung von Flüchtlingen auf Gemeinden in Grenznähe, aber auch im Raum Trento nahe dem Gardasee.

Rund 5700 illegal eingereiste Migranten sind bisher in diesem Jahr nach Angaben der Polizei in Tirol aufgegriffen worden. Laut Regierung in Rom sind seit Januar etwa 28 000 Migranten in Italien angekommen. Ist das ein Zeichen für fortgesetztes oder bereits beendetes "Durchwinken"? "Die Italiener machen schon mehr als bisher", ist sich Critelli sicher. Durch die Zurückweisung von inzwischen mehr als 7000 Flüchtlingen in diesem Jahr trägt aus Sicht von Wien auch Deutschland seinen Teil zur angespannten Lage in Österreich bei. Zusammen mit dem möglichen Andrang via Italien läuft das - so formuliert Wien - auf eine "Sandwich-Position" der Alpenrepublik hinaus. Und das bei einer Asyl-Obergrenze von 37 500 Bewerbern in diesem Jahr.

Die Rechtspopulisten der FPÖ in Österreich, aktuell in Umfragen politisch stärkste Kraft der Alpenrepublik, wollen das Problem nicht mehr mit Grenzkontrollen , sondern mit Grenzverschiebung lösen. So hat sich FPÖ-Parteichef Heinz Christian Strache in der römischen Zeitung "La Repubblica " für die Wiedervereinigung Tirols ausgesprochen. "Ich will die bestehende Wunde heilen und Tirol die Möglichkeit geben, sich wieder zu vereinen." Der heftige Protest aus Rom war ihm sicher.

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Hintergrund Wer seinen Pfingsturlaub im Ausland verbringt, sollte sich bei der Rückreise auf Wartezeiten und Staus an den Grenzen einstellen. Darauf weist der ADAC hin. Vor allem die Strecken aus Italien und Österreich nach Deutschland sind gefährdet. Staugefahr gebe es nicht nur auf den Fernstraßen , sondern auch auf Bundes-, Land- und Kreisstraßen. Besonders sind aber folgende Übergänge betroffen: Suben (A3 Linz - Passau), Walserberg (A8 Salzburg - München) und Kiefersfelden (A93 Kufstein - Rosenheim). Autofahrer sollten überlegen, ob sie andere Übergänge nutzen können. Alternativen seien Wegscheid (B388), Passau-Neuhaus (B512), Freilassing (B304), Kiefersfelden (Bundesstraße) und die A 96 Bregenz - Lindau. dpa

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