Jeremy Corbyn unter Beschuss Heftiger Streit um Labours Zukunft nach dem Wahldebakel

London · Die Rufe nach einem Rücktritt von Parteichef Jeremy Corbyn und einem Abrücken vom strammen Linkskurs werden immer lauter.

Jeremy Corbyn wird das Talent nachgesagt, sich seine ganz eigenen Realitäten erschaffen zu können. Dieses schien am Wochenende einmal wieder zum Vorschein zu kommen, als sich der britische Labour-Vorsitzende in gleich zwei Zeitungen sowie via sozialer Medien zu Wort meldete. Man erwartete Reue und Buße, nachdem die Sozialdemokraten bei der Parlamentswahl am vergangenen Donnerstag das schlechteste Ergebnis seit 1935 eingefahren hatten.

„Wir haben eine schwere Niederlage erlitten und ich übernehme meinen Teil der Verantwortung dafür“, sagte also Corbyn. Doch seine Entschuldigung klang bestenfalls halbherzig, wie Beobachter sofort kritisierten. Nicht nur, dass der Oppositionschef bis Frühjahr 2020 im Amt bleiben will, um den „nötigen Reflexionsprozess“ zu begleiten. Er beharrte auch darauf, dass das Wahlprogramm letztlich erfolgreich gewesen sei. „Wir haben die Debatte gewonnen, aber wir haben unsere Argumente leider nicht in eine Mehrheit für den nötigen Wandel“ umsetzen können, so Corbyn. Die Labour-Abgeordnete Harriet Harman befand, seine Worte zeigten „keinerlei Willen zu verstehen, warum Labour diese katastrophale Niederlage erlitten hat.“ Sie forderte Corbyn genauso zum Rücktritt auf wie Ex-Labour-Innenminister David Blunkett, der an den Oppositionschef gerichtet meinte: „Im Namen Gottes: Geh! – Und geh schnell.“

Derweil suchte Corbyn die Schuld bei den Medien, die mit ihrer Negativberichterstattung das Ergebnis beeinflusst hätten. Ebenfalls weit oben auf der Liste der Gründe für das Desaster steht für die Anhänger des Altlinken der Brexit. Labour war bis zuletzt einen Schlingerkurs gefahren, um beide Seiten der gespaltenen Wählerschaft zu halten. Der Versuch scheiterte, stattdessen verlor die Partei vor allem in den traditionellen Kerngegenden im Norden Englands und in den West Midlands.

Die Krise der Sozialdemokraten hat nun auch das Königreich erfasst, nachdem in Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden die Parteien schon länger mit dem Niedergang kämpfen. Von einigen wurde Corbyns Ausrichtung stark nach links als möglicher Ausweg betrachtet, um wieder an Popularität zuzulegen. Nach dieser Schlappe dürften sie ein neues Vorbild suchen.

Während die Anhänger des Sozialisten aber noch immer ihren „Messias“, wie ihn viele nennen, feiern, herrscht Wut und Ärger bei seinen Kritikern in den eigenen Reihen. Das „weit linke, gehässige, maßlose, kindische, ungebildete Projekt“ Corbynismus sei gescheitert, urteilte die ehemalige Labour-Beraterin Ayesha Hazarika. Für die Moderaten sei es nun an der Zeit „zurückzuschlagen”, um die Partei zu retten. Der „Krieg bei Labour” über den künftigen Kurs ist längst ausgebrochen.

So bringen sich bereits potenzielle Nachfolger Corbyns in Stellung. Als erste Kandidatin gilt seit Sonntag Lisa Nandy, Parlamentarierin aus Mittelengland, die seit geraumer Zeit fordert, in die politische Mitte zurückzukehren. Ginge es nach dem Parteivize und Corbyn-Vertrauten John McDonnell, kommen vielmehr Schatten-Wirtschaftsministerin Rebecca Long-Bailey sowie Schatten-Erziehungsministerin Angela Rayner als Bewerberinnen in Frage. Beide standen während des Wahlkampfs stets an der Seite Corbyns, genießen deshalb die Unterstützung der Parteilinken. Sie werden sich aber auch gegen die Vorwürfe wehren müssen, mitverantwortlich für das verheerende Resultat zu sein.

Beliebt bei den Vertretern der Mitte und des rechten Flügels ist Schatten-Brexitminister Keir Starmer. Seit 2016 hat er sich für ein zweites Referendum ausgesprochen. Entgegen der neutralen Haltung von Corbyn setzte er sich für einen EU-Verbleib des Königreichs ein.

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