Brexit-Streit im britischen Parlament Machtspiel mit ungewissem Ausgang

London · Die Kraftprobe zwischen Premier Boris Johnson und dem britischen Parlament im Brexit-Streit geht weiter. Derweil treibt er die Spaltung seiner eigenen Partei voran.

 Der britische Premier Boris Johnson hat 21 konservative Abgeordnete aus der Fraktion verwiesen, die sich im Parlament gegen ihn stellten und gemeinsam mit Oppositionspolitikern einen No-Deal-Brexit per Gesetz verhindern wollen.

Der britische Premier Boris Johnson hat 21 konservative Abgeordnete aus der Fraktion verwiesen, die sich im Parlament gegen ihn stellten und gemeinsam mit Oppositionspolitikern einen No-Deal-Brexit per Gesetz verhindern wollen.

Foto: dpa/Jessica Taylor

() Als Kenneth Clarke zum ersten Mal ins britische Parlament gewählt wurde, war Boris Johnson ein Kind, gerade mal fünf Jahre alt. Während der blonde Junge noch davon träumte, einmal König der Welt zu werden, saß Clarke bereits als konservativer Abgeordneter auf denselben abgewetzten grünen Bänken wie sie heute noch im traditionsbewussten Unterhaus zu finden sind und stritt als Mitglied im Kabinett mit Margaret Thatcher, John Major und David Cameron. Man könnte es auch so sagen: Mehr Tory als Ken Clarke geht nicht.

Am Dienstagabend hat Boris Johnson, mittlerweile 55 Jahre alt und Premierminister, Ken Clarke, mittlerweile 79 Jahre alt und Alterspräsident des Parlaments, aus der konservativen Fraktion geworfen. Überrascht schien dieser nicht, aber doch tief getroffen, beinahe bestürzt. Er erkenne seine Partei nicht wieder, sagte er nach diesem historischen Tag, nach diesen dramatischen Szenen in Westminster. Es handele sich vielmehr um eine „umetikettierte Brexit-Partei“.

Mit Clarke wurden 20 weitere Abgeordnete ausgeschlossen, darunter prominente Schwergewichte wie Nicholas Soames, der Enkel von Johnsons großem Vorbild ­Winston Churchill, Philip Hammond, ehemaliger Schatzkanzler und Außenminister, oder Rory Stewart, früherer Entwicklungshilfeminister. Stewart hat per Textnachricht von seinem konservativen Karriere-Aus erfahren. Stilvoll. Oder konsequent? Johnson hatte im Vorfeld angekündigt, all jene Rebellen abstrafen zu wollen, die sich gegen ihn stellten.

Am Ende paktierten 21 Parlamentarier mit der Opposition, um einen Brexit ohne Abkommen am 31. Oktober zu verhindern. Sie fügten der Regierung am Dienstag eine bittere Niederlage zu, entrissen Johnson die Kontrolle, um so ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das den Handlungsspielraum des Regierungschefs erheblich einschränken würde. Dieser will das Land Ende Oktober aus der EU führen – komme, was wolle. Gestern erhielt der Entwurf auch in zweiter Lesung eine Mehrheit. 329 Abgeordnete stimmten für das Gesetz gegen einen No-Deal-Brexit am 31. Oktober, 300 dagegen. Schließlich hat das britische Unterhaus nach der dritten Lesung das Gesetz angenommen und bezog so klar Stellung gegen Johnson. Schafft es das Gesetz jetzt noch im Eiltempo durchs Oberhaus, wäre er gezwungen, in Brüssel eine Verlängerung der Scheidungsfrist zu beantragen.

Das Gesetz sieht eine Verschiebung des bisher für Ende Oktober geplanten EU-Austritts bis zum 31. Januar vor, falls es keine Einigung auf ein Abkommen mit Brüssel gibt.

Nach dem Unterhausvotum beantragte Johnson eine vorgezogene Neuwahl am 15. Oktober, was er bereits in der Fragestunde vor der Abstimmung angekündigt hatte für den Fall, dass ihm die Abgeordneten den Weg zum No-Deal-Brexit per Gesetz versperren. Um einen vorgezogenen Urnengang herbeizuführen, braucht die Regierung jedoch eine Zweidrittelmehrheit. Und damit Labours Hilfe. Es schlägt die Stunde von Oppositionschef Jeremy Corbyn. Seit Monaten fordert er Parlamentswahlen, doch sollte er in die „Falle der Tories“ treten, wie Labours ehemaliger Premier Tony Blair es nannte? Johnson führt in allen Umfragen deutlich, der Altlinke Corbyn schreckt dagegen viele Wähler ab. Man werde nicht auf die Tricks von Johnson hereinfallen, beteuerte Corbyn gestern. Er werde keine Neuwahl unterstützen, bis klar sei, dass die Gefahr eines No-Deal-Brexits gebannt sei. Die Opposition fürchtet, Johnson könnte den Wahltermin nach einer Abstimmung nachträglich auf einen Termin nach Halloween verschieben, um doch noch einen Brex­it ohne Abkommen zu erreichen.

Für die Gegner eines ungeregelten Brexits gab es indessen einen Rückschlag: Das oberste schottische Zivilgericht wies eine Klage gegen die von Johnson erwirkte mehrwöchige Zwangspause des Parlaments ab. Das Gericht fühlt sich nicht zuständig. Geklagt hatten etwa 75 Parlamentarier. Sie sehen in der von Johnson angestrebten wochenlangen Schließung des Unterhauses vor dem EU-Austritt Ende Oktober eine unzulässige Einschränkung des Parlaments. Ähnliche Klagen wurden auch vor Gerichten in Belfast und London eingereicht. Heute soll der Fall vor dem dortigen High Court verhandelt werden. Ein letztinstanzliches Urteil dürfte aber am Ende der Supreme Court fällen. Der Klage in London hatte sich auch der konservative Ex-Premierminister John Major angeschlossen. Bei einem ungeregelten Brexit will die EU besonders hart getroffenen Mitgliedstaaten, Unternehmen und Arbeitnehmern mit bis zu 780 Millionen Euro helfen. Das Geld soll aus zwei bestehenden Hilfsfonds kommen, sagten EU-Beamte am Mittwoch. Diesen Vorschlag der EU-Kommission müssten das Europaparlament und die Mitglied­staaten allerdings noch absegnen. „Die Chancen, dass es zu einem ungeordneten Brexit kommt, stehen noch immer bei 50 zu 50“, sagt Jonathan Portes, Wirtschaftsprofessor am Londoner King’s College. Denn das Gesetz verzögere abermals nur das Problem.

Trotz der aktuellen Beschlüsse droht weiterhin der No Deal. Johnson muss erst einmal den Aufschub der Frist beantragen, Brüssel ihn dann genehmigen. Wenn nichts passiert, verlassen die Briten am 31. Oktober – oder eben am 31. Januar – ohne Deal die EU. Die einzigen Alternativen: Das Parlament findet endlich eine Mehrheit für einen Vertrag. Oder es bläst den Austritt ab – ein fast ausgeschlossenes Szenario.

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