Premier Johnson verliert Mehrheit im Parlament Brexit-Kraftprobe mit ungewissem Ausgang
London · Protest auf der Straße, Protest im Parlament: Der britsche Premier Johnson hat dort jetzt wegen eines Überläufers keine Mehrheit mehr.
Als Großbritanniens Parlamentarier nach ihrer Sommerpause gestern zurück in den ehrwürdigen Westminster-Palast schritten, wurden sie von lautstarken Protesten begleitet. „Nichts ist normal heute“, versuchte ein BBC-Moderator seinen Zuschauern eindringlich zu erklären, während hinter ihm Massen an EU-Flaggen und wenige Union-Jack-Fahnen im Wind flatterten. Es handle sich vielmehr um einen „bedeutsamen, folgenschweren Tag“. Der Tag, an dem der große Showdown im Unterhaus beginnen sollte.
Wie lange die Kraftprobe anhält und wer als Gewinner aus der erbittert geführten Auseinandersetzung hervorgehen wird, ist noch völlig unklar. Je nach Sieger könnten die Briten entweder am 31. Oktober ohne Deal aus der EU scheiden – oder der Austritt wird noch einmal verzögert. Oder gibt es Neuwahlen? Finden sie vor oder nach dem aktuellen Brexit-Termin statt?
Die nationalen Hellseher in Gestalt von Polit-Experten haben derzeit Konjunktur. Derweil steht Premierminister Boris Johnson unter massivem Druck. Dieser nahm noch zu, nachdem der Abgeordnete Philip Lee gestern aus Protest gegen den Kurs des Parteivorsitzenden nach 27-jähriger Mitgliedschaft von den Konservativen zu den Liberaldemokraten übergelaufen war. Mit dem Fraktionswechsel büßte der Regierungschef seine rechnerische Mehrheit im Unterhaus ein.
Die Situation erinnert auffällig an jene seiner Vorgängerin Theresa May, die ebenfalls unter dem Dilemma litt, die völlig zerstrittenen Tories auf einen Kurs einzuschwören. Während der Debatte geriet Johnson denn auch schnell in die Defensive. Es hätte in den ersten Stunden nicht schlechter für den Premier laufen können, befand ein Kommentator – „so viele tödliche Fragen und keine Antworten“. Mit dem entscheidenden Antrag sollte sich das Unterhaus erst am späten Abend beschäftigen.
Die Regierung pocht darauf, am 31. Oktober aus der EU zu scheiden, im Notfall auch ohne Austrittsabkommen. Dafür hat Johnson dem Parlament ab kommender Woche eine gut vierwöchige Zwangspause auferlegt. Doch der Widerstand ist groß, nicht nur bei der Opposition der Labour-Partei. Auch einige konservative Parlamentarier wollen mit dem politischen Gegner paktieren, um einen ungeordneten Brexit zu verhindern. Dafür plant das Zweckbündnis, im Eiltempo einen parteiübergreifenden Gesetzentwurf zu verabschieden. Durch diesen würde Johnson gezwungen, bei der EU eine Verlängerung der Scheidungsfrist zu beantragen.
Johnson kritisierte, die rebellischen Abgeordneten würden ihm bei seinen Verhandlungen mit Brüssel den Boden unter den Füßen wegziehen, falls sie diese Woche ein solches Gesetz auf den Weg brächten. Er drohte den Rebellen, unter ihnen konservative Schwergewichte wie Ex-Schatzkanzler Philip Hammond und Ken Clarke, Alterspräsident des britischen Unterhauses, mit dem Karriere-Aus innerhalb der Tory-Partei. Ihnen würde verboten, bei künftigen Parlamentswahlen für die Konservativen anzutreten.
Hammond ist dieser Tage der prominenteste parteiinterne Kritiker Johnsons, will trotz der mahnenden Worte des Regierungschefs bei seiner Absicht bleiben, via Gesetzentwurf einen No-Deal-Brexit zu verhindern. Gestern leitete er den Tag mit einem aufsehenerregenden Interview ein. Er werde bis zuletzt gegen jene kämpfen, die die Tories „von einer breiten Kirche in eine engstirnige Fraktion“ verwandeln wollten.
Regierungschef Johnson dagegen versucht unaufhörlich, seine Kritiker zu überzeugen, dass auch er das Land mit einem Abkommen aus der Staatengemeinschaft führen will. Ein No-Deal müsse, so seine Argumentation, als Option auf dem Tisch bleiben, um den Druck auf die EU aufrechtzuerhalten. Angesichts der Signale aus Brüssel sei er optimistisch, dass ein Vertrag möglich ist. Er sprach von einem „echten Momentum“. Doch von welchen Signalen redet er?
Sollte die Opposition mit Hilfe der Tory-Rebellen mit ihrem Vorstoß Erfolg haben und der Regierung die Parlamentsgeschäfte entreißen, um dann in einem zweiten Schritt das Gesetz gegen einen ungeordneten Austritt einzubringen, will Johnson eine Parlamentswahl beantragen. Dafür bräuchte er aber eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Unterhaus. Würde sich Labour darauf einlassen?
Deren Chef, Jeremy Corbyn, fordert zwar seit Monaten genau das und zeigte sich selbst diese Woche aufgeschlossen, aber viele Sozialdemokraten warnen vor einer Falle der Tories. Aus taktischen Gründen könnte Labour deshalb gegen Neuwahlen stimmen. Die No-Deal-Gegner wollen vor allem verhindern, dass eine Wahl kurz nach dem Austrittstermin stattfindet. In diesem Szenario könnte Großbritanniens Mitgliedschaft enden, während das Parlament geschlossen ist und sich die Politik im Wahlkampf befindet.